Historische Entwicklung und soziale Dimension der New-Age-Kultur in der späten UdSSR und im postsowjetischen Russland im Fokus
14.08.2019
Die New-Age-Bewegung ist vor allem als eine gegenkulturelle Strömung aus westeuropäischen Ländern und den USA bekannt. Der Begriff "New Age" selbst bezieht sich auf das Wassermannzeitalter, das nach verschiedenen Auffassungen durch eine besondere astrologische Konstellation im 20. Jahrhundert eingeläutet wurde. Damit verbunden ist die Erwartung einer neuen historischen Ära, in der sich die psychologischen und physiologischen Möglichkeiten des Menschen radikal verändern. Aber was hat es mit New Age in Russland auf sich? Tatsächlich blickt Russland auf eine sehr lange Geschichte esoterischer Bewegungen zurück, deren Vitalität auch während der Sowjetzeit trotz Verbot und massiver Repressionen nicht erstickt werden konnte.
"New Age umfasst als Begriff vielfältige Glaubensvorstellungen und Praktiken, die das Potenzial des Menschen erweitern wollen. Diese Bewegungen gibt es in Russland ebenso wie im Westen", erklärt Prof. Dr. Birgit Menzel, Kulturwissenschaftlerin am Fachbereich für Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in Germersheim. "Historisch gesehen war das russisch-orthodoxe Christentum sogar viel offener für mystische Strömungen. Allerdings hat die Esoterik unter den Bedingungen der atheistischen Sowjetepoche spezifische Formen und Gestalt angenommen, die es in einer global perspektivierten Forschung herauszuarbeiten gilt." Prof. Dr. Birgit Menzel leitet zusammen mit dem Religionsanthropologen Prof. Dr. Alexander Panchenko von der renommierten Europäischen Universität in Sankt Petersburg ein Forschungsprojekt zu neuen religiösen Kulturen im spät- und postsowjetischen Russland.
New Age als eine einzige esoterische Kultur
Obwohl sich die Ideen, Glaubensvorstellungen und Praktiken des New Age stark unterscheiden können, weisen sie eine innere Logik auf und sind durch eine Vielzahl globalisierter sozialer Prozesse miteinander verknüpft. Daher können sie, so die Prämisse des Forschungsprojekts, als Komponenten einer einzigen esoterischen Kultur untersucht werden. So ist ein wesentliches gemeinsames Ziel von New Age die Entwicklung eines Bewusstseins davon, dass alles – Mensch, Natur und Kosmos – mit allem verbunden ist. Aus dieser Idee folgt die Zielsetzung einer grundlegenden moralischen Erneuerung des Menschen durch Selbstvervollkommnung wie auch durch neue harmonische soziale Bindungen.
Vor diesem Hintergrund befassen sich die Teilprojekte der Forschungsarbeit auf deutscher Seite etwa mit astrologischen Schulen und dem kultischen Milieu der späten Sowjetunion und der postsowjetischen Zeit oder mit der Bewegung des mystischen Anarchismus im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Auf russischer Seite wird unter anderem über Ufologie, Praktiken des Channeling und Paranormalität geforscht. Eine weitere Arbeit trägt den Titel "Die Weisheit der Ahnen und die Herausforderung der Gegenwart: Konzepte des New Age in der Rhetorik des ethnischen Traditionalismus in Ossetien". Außerdem wird über Dienstleistungen auf dem russischen Esoterikmarkt, New-Age-Pilgerfahrten und Amateurlinguistik im Esoterikfeld geforscht.
Entstehung, Entwicklung, Kontinuität und soziale Funktionen von New Age
"Im Fokus des Projekts stehen die historische Entwicklung und sozialen Dimensionen der New-Age-Kultur in der UdSSR zwischen 1960 und 1990 sowie im postsowjetischen Russland", fasst Menzel das 2018 gestartete Projekt zusammen. Eine zentrale Frage betrifft die Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung von New Age in der sowjetischen Kultur begünstigt haben. Außerdem wird ein besonderes Augenmerk auf die Kontinuität zwischen der späten Sowjetzeit und der postsowjetischen Epoche gelegt. Und schließlich wollen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die sozialen Funktionen und Ideen der New-Age-Praktiken im heutigen Russland ermitteln.
In einer vergleichenden Arbeit wird Prof. Dr. Birgit Menzel die New-Age-Kulturen, das sogenannte Human Potential Movement, im sowjetischen und postsowjetischen Russland, in Zentraleuropa und den USA analysieren. "Wir betreten hier Neuland, können aber auch auf Vorarbeiten zurückgreifen. Die akademische Esoterikforschung ist eindeutig den Kinderschuhen entwachsen", so Menzel. Die Wissenschaftlerin war bis vor Kurzem Vorstandsmitglied der European Society for the Study of Western Esotericism (ESSWE), einer wissenschaftlichen Gesellschaft, die zur Erforschung der verschiedenen Strömungen westlicher Esoterik von der späten Antike bis zur Gegenwart beitragen will.
Das deutsch-russische Forschungsprojekt "Neue religiöse Kulturen im spät- und postsowjetischen Russland: Ideologien, soziale Netzwerke, Diskurse" hat eine Laufzeit von drei Jahren bis 2021 und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Russischen Fonds für Grundlagenforschung (RFBR) finanziell unterstützt. Nach dem Auftakt der Kooperation mit einem gemeinsamen Workshop 2018 in Germersheim treffen sich die Partner im Oktober 2019 zum Austausch in Sankt Petersburg. "Längerfristig wollen wir ein Netzwerk gründen, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen aus dem Westen und aus Russland zusammenbringt", umreißt Menzel die Zukunftspläne. Hierfür ist ein Blog erstellt worden, um internationale russlandbezogene Esoterikforschung einem größeren Publikum zugänglich zu machen.