Forschung der JGU und der Humboldt-Universität zu Berlin deckt neue Funktion elektrischer Synapsen auf und entschlüsselt damit den neuronalen Schaltkreis zur Steuerung der Flügelschlagfrequenz von Insekten
25.05.2023
Ein Forscherteam der experimentellen Neurobiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Theoretischen Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin konnte ein jahrzehntealtes Rätsel um die Entstehung elektrischer Aktivitätsmuster während des Insektenflugs lösen. Gemeinsam berichten sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Nature von einer neuen Funktion elektrischer Synapsen, die während des Flugs von Fruchtfliegen zum Einsatz kommt.
Die Geschwindigkeit ist kaum vorstellbar: Zweihundertmal pro Sekunde schlägt die Fruchtfliege Drosophila melanogaster mit den Flügeln, um sich durch die Luft nach vorne zu bewegen – andere kleine Insekten kommen gar auf tausend Schläge pro Sekunde. Diese hohe Schlagzahl erzeugt nicht nur den hohen Summton, der von Mücken bekannt ist. Sie ist vielmehr nötig, damit die kleinen Tiere in der für sie viskosen Luft nicht steckenbleiben. Dabei bedienen sie sich eines im Insektenreich weit verbreiteten Tricks: Flügelsenker- und Flügelhebermuskeln aktivieren sich durch Streckung gegenseitig – es entsteht ein System, das auf hoher Frequenz oszilliert und auf diese Weise hohe Flügelschlagfrequenzen ermöglicht. Die Nervenzellen halten nicht mit dem Tempo der Flügel mit, stattdessen erzeugt jede Nervenzelle nur etwa jeden zwanzigsten Flügelschlag einen elektrischen Puls, mit dem sie die Flugmuskeln ansteuert. Dieser Puls ist präzise auf das Zusammenspiel mit anderen Nervenzellen abgestimmt. In den Nervenzellen zur Flügelschlagkontrolle werden dabei besondere Aktivitätsmuster generiert: Jede Zelle feuert zwar regelmäßig Pulse, jedoch nicht zeitgleich zu den anderen Zellen, sondern in festen zeitlichen Abständen zueinander. In der Fruchtfliege sind solche neuronalen Aktivitätsmuster bereits seit den 1970er-Jahren bekannt, die zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen allerdings nicht.
Ein neuronaler Schaltkreis ermöglicht den Insektenflug
Forschende der JGU konnten das ungelöste Rätsel nun gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe 5289 knacken. "In der Fruchtfliege Drosophila melanogaster wird die Flügelbewegung von einem miniaturisierten Schaltkreis aus nur wenigen Nervenzellen und Synapsen kontrolliert", erläutert Prof. Dr. Carsten Duch vom Fachbereich Biologie der JGU. Und wahrscheinlich nicht nur in der Fruchtfliege: Auch die über 600.000 Insektenarten, die auf eine ähnliche Fortbewegung setzen, dürften über einen solchen neuronalen Schaltkreis verfügen.
Die Fruchtfliege bietet den neurobiologischen Forschenden viele Möglichkeiten, die verschiedenen Komponenten des neuronalen Schaltkreises genetisch zu manipulieren – vom Ein- und Ausschalten einzelner Synapsen bis hin zur gezielten Beeinflussung der Aktivität einzelner Nervenzellen. Die Forschenden kombinierten diese genetischen Werkzeuge mit Messungen der Aktivität und der elektrischen Eigenschaften der Nervenzellen im Schaltkreis. Sie konnten auf diese Weise alle Zellen und synaptischen Verschaltungen des neuronalen Schaltkreises zur Erzeugung der Flugmuster identifizieren. Sie konnten also zeigen: Das neuronale Netzwerk, das das Flugmuster erzeugt, besteht lediglich aus wenigen Nervenzellen, die untereinander nur über elektrische Synapsen verschaltet sind.
Neue Prinzipien der Informationsverarbeitung im Nervensystem
Zuvor wurde angenommen, dass auf Pulse einer Nervenzelle hin hemmende Botenstoffe zwischen Nervenzellen des Flug-Netzwerks ausgeschüttet werden und die Zellen sich so gegenseitig daran hindern, zeitgleich Pulse zu erzeugen. Über experimentelle und mathematische Analysen konnte das Team nun allerdings zeigen: Eine solche Puls-verteilte Aktivität kann auch auftreten, wenn die Nervenzellen nicht chemisch, sondern direkt elektrisch – also ohne den Einsatz von Botenstoffen – verschaltet sind. Die Zellen müssen dabei eine besondere Art von Puls erzeugen, bei dem sie sich gegenseitig sehr gut "zuhören" – insbesondere dann, wenn sie selbst gerade aktiv waren.
Mathematische Analysen sagten voraus, dass dies bei "normalen" Pulsen nicht der Fall ist. Es wäre also auch bei einer rein elektrischen Übertragung keine pulsverteilte Aktivität zu erwarten. Um diese theoretische Voraussage experimentell zu bestätigen, wurden in den Nervenzellen des Netzwerks bestimmte Ionenströme manipuliert. Tatsächlich veränderte sich das Aktivitätsmuster im Flugschaltkreis zu synchroner Aktivität – genau wie im mathematischen Modell vorausgesagt. Diese experimentelle Manipulation führt zu erheblichen Schwankungen bei der Krafterzeugung während des Flugs: Die Desynchronisation der Aktivität, die normalerweise durch elektrische Synapsen im neuronalen Schaltkreis erzeugt wird, ist also nötig, damit die Flugmuskulatur eine gleichmäßige Kraft erzeugen kann.
Der Befund des Forscherteams aus Mainz und Berlin ist besonders überraschend, da man bisher davon ausging, dass eine rein elektrische Verschaltung dazu dient, die zeitgleiche Aktivität von Nervenzellen zu fördern. Die mittels elektrischer Synapsen erzeugten Aktivitätsmuster zeigen somit neue Prinzipien der Informationsverarbeitung in Nervensystemen auf. Der gleiche Mechanismus könnte nicht nur bei Tausenden anderen Insektenarten, sondern auch im menschlichen Gehirn zum Einsatz kommen, wo die Funktion von elektrischer Verschaltung noch weitgehend unverstanden ist.