Neue Möglichkeiten in der theoretischen Vorhersage von Teilchenwechselwirkungen

Mainzer Wissenschaftlerteam findet Weg zur Auswertung hochkomplexer Feynman-Integrale

21.03.2023

Wie sieht die Welt in den kleinsten Dimensionen aus? Diese Frage versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Experimenten an großen Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider (LHC) am CERN in der Schweiz zu beantworten. Um die Ergebnisse dieser Experimente vergleichen zu können, müssen theoretische Physiker immer präzisere Vorhersagen machen. Diese basieren auf dem aktuell gültigen Standardmodell der Teilchenphysik, das die Wechselwirkungen der fundamentalen Teilchen beschreibt. Ein wichtiger Bestandteil dieser Vorhersagen sind die sogenannten Feynman-Integrale. Kürzlich hat ein Team des Exzellenzclusters PRISMA+ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), bestehend aus Dr. Sebastian Pögel, Dr. Xing Wang und Prof. Dr. Stefan Weinzierl, eine Methode zur effizienten Berechnung einer neuen Klasse dieser Feynman-Integrale entwickelt, die mit Calabi-Yau-Geometrien verbunden sind. Die im renommierten Fachjournal Physical Review Letters veröffentlichte Arbeit eröffnet den Weg zu hochpräzisen theoretischen Vorhersagen von Teilchenwechselwirkungen und zu einem besseren Verständnis der eleganten mathematische Struktur, die der Welt der Teilchenphysik zugrunde liegt.

"Bei der Wechselwirkung subatomarer Teilchen gibt es eine Besonderheit: Es kann eine beliebige Anzahl zusätzlicher Teilchen vorübergehend auftauchen und wieder verschwinden", erläutert Prof. Dr. Stefan Weinzierl. "Je mehr dieser zusätzlichen Teilchen wir bei der theoretischen Vorhersage solcher Wechselwirkungen berücksichtigen können, desto genauer wird die Berechnung des tatsächlichen Ergebnisses sein." Feynman-Integrale sind mathematische Objekte, die diesen Effekt beschreiben, indem sie alle möglichen Arten, wie Teilchen auftauchen und sofort wieder verschwinden können, zusammenfassen.

Calabi-Yau-Geometrien: Zusammenspiel von Mathematik und Physik

Eine wichtige Eigenschaft, die die Komplexität eines Feynman-Integrals bestimmt, ist dessen Geometrie. Viele der einfachsten Feynman-Integrale haben die Geometrie einer Kugel oder eines Torus – der mathematische Begriff für eine Donut-Form. Solche Integrale werden heutzutage gut verstanden. Es gibt jedoch ganze Familien von Geometrien, sogenannte Calabi-Yau-Geometrien, die den Donut-Fall auf höhere Dimensionen verallgemeinern. Diese haben sich als fruchtbares Forschungsgebiet in der reinen Mathematik erwiesen, aber auch umfangreiche Anwendung in der Stringtheorie gefunden. In den letzten Jahren haben Forscher entdeckt, dass auch viele Feynman-Integrale mit Calabi-Yau-Geometrien verbunden sind. Aufgrund der Komplexität der Geometrie ist die effiziente Auswertung solcher Integrale jedoch eine Herausforderung geblieben.

In ihrer jüngsten Veröffentlichung stellen Dr. Sebastian Pögel, Dr. Xing Wang und Prof. Dr. Stefan Weinzierl  nun eine Methode vor, mit der sie Feynman-Integrale mit Calabi-Yau-Geometrien in den Griff bekommen können. In ihrer Forschung haben sie eine einfache Familie von Calabi-Yau Feynman-Integralen untersucht, die als Bananen-Integrale bezeichnet werden. Der Name leitet sich aus dem Feynman-Graphen ab. Dabei konnten sie erstmalig eine sogenannte "epsilon-faktorisierte Form" für diese Integrale finden.

Diese Form erlaubt es, die Integrale schnell und mit nahezu beliebiger Genauigkeit auszuwerten, was sie für zukünftige theoretische Vorhersagen zugänglich macht. "Unsere neue Methode öffnet die Tür zu einer Vielzahl von bisher unerreichbaren Feynman-Integralen", sagt Dr. Xing Wang. Laut Dr. Sebastian Pögel ist es ein schönes Beispiel dafür, wie reine Mathematik in phänomenologische Vorhersagen für Hochenergieexperimente einfließt. "Wir sind unseren Kollegen aus der Mathematik, insbesondere der Gruppe von Prof. Dr. Duco van Straten, sehr dankbar, da wir auf ihrer Arbeit aufbauen und nun dieses aufregende Ergebnis erreichen konnten", resümiert Prof. Dr. Stefan Weinzierl.