Auszeichnung für Psychologin Iris Reiner und Molekularmediziner Nir Yogev
03.07.2013
Die Psychologin Dr. Iris Reiner und der Molekularmediziner Dr. Nir Yogev von der Universitätsmedizin Mainz teilen sich den mit insgesamt 30.000 Euro dotierten Boehringer Ingelheim Preis 2013. Nir Yogev überzeugte die Fachjury mit einer Arbeit zur Multiplen Sklerose (MS). Im Modellversuch wies er erstmals nach, dass die sog. dendritischen Zellen nicht nur Auslöser der Krankheit sind, wie man bisher annahm. Sie besitzen zudem eine schützende Rolle. Seine Ergebnisse öffnen vielversprechende Wege für die Therapie von MS. Iris Reiner untersuchte bei depressiven Patienten das Zusammenspiel früherer Beziehungserfahrungen und des oft als "Liebeshormon" bezeichneten Neuropeptid Oxytozin. Sie fand heraus, dass bei Depressionen winzige Veränderungen im Gen für den Oxytozinrezeptor eine Rolle spielen könnten. Dieser Ansatz kann helfen, Depressionen und ihre Entstehung besser zu verstehen.
"Wir brauchen eine starke Forschungskultur, die von innovativem Denken geprägt ist, wie es die beiden Preisträger Dr. Iris Reiner und Dr. Nir Yogev in ihren Arbeiten bewiesen haben", so der Wissenschaftliche Vorstand der Universitätsmedizin Mainz, Prof. Dr. Ulrich Förstermann. "Wir sind stolz, junge Talente auf Gebieten auszeichnen zu können, in denen wir uns in Forschung und Behandlung besonders engagieren. So wurde beispielsweise im Bereich Multiple Sklerose im Jahr 2012 ein DFG-Sonderforschungsbereich eingerichtet. Beide Preisträger erforschen Krankheiten, die bei den vielen Betroffenen großes Leid verursachen, sodass neue klinische Ansätze dringend nötig sind." Otto Boehringer, Vorsitzender des Vorstands der Boehringer Ingelheim Stiftung fügt hinzu: "Die nachhaltige Stärkung exzellenter Wissenschaft ist der Boehringer Ingelheim Stiftung ein zentrales Anliegen. Dazu gehört für uns ganz besonders die Förderung von Nachwuchswissenschaftlern wie mit diesem Preis für herausragende Leistungen in der klinischen und theoretischen Medizin in Mainz."
Dr. Nir Yogev vom Institut für Molekulare Medizin konnte erstmals zeigen, dass sog. dendritische Zellen bei Multipler Sklerose eine bedeutsame Rolle spielen. Abhängig von ihrem Aktivierungsstatus können sie die Krankheit mit auslösen oder vor ihr schützen. Yogev untersuchte die Rolle dieser Zellen bei einer autoimmunen Hirnentzündung (EAE), einer MS-ähnlichen Modellerkrankung. Aktivierte er die dendritischen Zellen, bevor er die Krankheit auslöste, konnte er einen Schutz vor der Krankheit beobachten. Verminderte er die Zahl der dendritischen Zellen vor Krankheitsinduktion, so verlief die Erkrankung schwerer. "Dies hat uns überrascht. Wir haben zwar damit gerechnet, dass andere Zellen die Aufgaben der dendritischen Zellen übernehmen und damit schließlich die Krankheit auslösen. Aber wir haben erwartet, dass die Krankheit später ausbricht und milder verläuft", so Yogev.
Ein Fehlen dendritischer Zellen führte auch zu einer deutlichen Verminderung regulatorischer T-Zellen. Diese steuern die Aktivität des Immunsystems und verhindern Immunangriffe des Körpers auf sich selbst. Zusätzlich dämpfen dendritische Zellen die Autoimmunantwort, indem sie die Lebensdauer anderer Immunzellen kontrollieren. "In unserer Arbeit konnten wir die molekularen Mechanismen klären, über die dendritische Zellen die Immunantwort der T-Zellen steuern", ergänzt der Molekularmediziner.
Die Ergebnisse weiterer Untersuchungen versprechen nicht nur für MS, sondern auch für andere Autoimmunkrankheiten neue Therapieansätze: Dendritische Zellen "schulen" u.a. die unreifen T-Zellen des Immunsystems darin, eigene und fremde Zellen zu unterscheiden. Dazu heften sie sich sog. Antigene, also Bruchstücke eigener und fremder Moleküle, auf ihre Oberfläche. Diese Bruchstücke präsentieren sie den unreifen T-Zellen und geben ihnen gleichzeitig die Information "selbst = tolerieren" bzw. "fremd = angreifen". Zellen, die den Unterschied gelernt haben, bekommen den Impuls zur Weiterentwicklung. Bei Autoimmunerkrankungen wie MS ist dieser Prozess gestört: Der Körper lässt T-Zellen reifen, die den eigenen Körper angreifen.
Nir Yogev variierte sein Modell gezielt, damit es zusätzlich veränderte dendritische Zellen produziert. Diese Zellen trugen Antigene, die eine Rolle bei der EAE spielen. Aber sie gaben keine Zusatzinformationen zu "selbst" und "fremd" und keinen Entwicklungsimpuls. Bekannt war, dass man mit solchen Zellen den Körper dazu bringen kann, die entsprechenden Antigene zu tolerieren: Es kommt also nicht zu EAE. "Erstaunlich war aber, dass wir mit diesen Zellen die Krankheit selbst nach Ausbruch stoppen konnten", zeigt sich Nir Yogev begeistert. "Möglicherweise kann man mit solchen dendritischen Zellen auch das Immunsystem von MS-Patienten anregen, die Autoimmunreaktion anzuhalten."
Dr. Iris Reiner überzeugte durch eine Arbeit, die untersucht, wie genetische und psychologische Faktoren bei Depression zusammenspielen können. "Frühe Bindungserfahrungen haben einen starken Einfluss auf die Entwicklung von Depressionen. Menschen, die in ihrer Kindheit Verlust, Trennung oder generell unsichere Bindungen erleben, sind später anfälliger für Depressionen", erklärt die an der Psychosomatischen Klinik der Universitätsmedizin Mainz tätige Psychologin. In ihrem Forschungsprojekt "Bindung, Oxytozin und Depression" will Reiner klären, wie bei Depressionen die Regulation von Genen und die Menge des als "Kuschel- oder Liebeshormon" bezeichneten Oxytozins zusammenspielen. Oxytozin ist ein wichtiger Signalstoff für zwischenmenschliche Bindungen, unser Körper bildet es beispielsweise bei stillenden Müttern.
Die physiologische Reaktion von Oxytozin wird von den Andockstellen des Oxytozins, den sog. Oxytozinrezeptoren, gesteuert, für die das Oxytozinrezeptorgen kodiert. Wie von allen Genen hat jeder Mensch zwei Kopien dieses Gens, das in den Varianten "a" und "g" vorkommen kann. Menschen mit der Genversion "aa" und "ag" haben laut der Studie von Dr. Iris Reiner eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Depressionen zu erkranken. Dies gilt selbst dann, wenn sie als Kind sichere Bindungen erlebt haben. Andererseits steigt bei Menschen mit der "gg"-Variante die Wahrscheinlichkeit, nach einer traumatischen Erfahrung unter "Depersonalisation" zu leiden. Bei dieser psychischen Störung nehmen Patienten sich selbst und ihre Umwelt als verändert, fremd und nicht-zu-sich-gehörig wahr. Trotz dieser statistischen Unterschiede in Bezug auf die Genvarianten war der Hormongehalt im Blut von Gesunden und Depressiven gleich.
Zusätzlich untersuchte Reiner, wie frühe Erfahrungen, aber auch traumatische Erlebnisse im Laufe des Lebens Spuren in unserer DNA hinterlassen. Diese könnten später Depressionen begünstigen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Helge Frieling vom Labor für Molekulare Neurowissenschaften der Medizinischen Hochschule Hannover konnte Dr. Iris Reiner Hinweise finden, dass kritische Lebensereignisse den Genabschnitt für den Oxytozin-Rezeptor chemisch verändern. Derartige sog. Methylierungen verändern nicht die Information des Gens selbst. Stattdessen kontrollieren sie die Produktionsmenge der Substanz, für die ein Gen die Information enthält.
Um das Zusammenspiel zwischen genetischen Einflüssen und Umwelteinflüssen abfragen zu können, entwickelte Reiner die deutsche Version eines in den USA vielfach eingesetzten Fragebogenverfahrens zur Messung der Bindungs- und Beziehungsqualität, das "Quality of Relationship Inventory" (QRI). Damit steht auch anderen medizinischen Disziplinen nun ein international anerkanntes Verfahren zur Messung von Beziehungsqualität zur Verfügung.