Neueste Messungen liefern wertvolle Informationen zu neuartigen Teilchen, die das anomale magnetische Moment des Myons erklären könnten / Experimentelles Neuland betreten
11.12.2023
Die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Matthias Schott vom Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat heute die Ergebnisse einer umfangreichen Messreihe am ATLAS-Detektor des Large Hadron Collider (LHC) veröffentlicht. Die Daten wurden während der zweiten Laufzeit des LHC zwischen 2015 und 2018 aufgenommen. Ziel des experimentell anspruchsvollen Messprogramms ist die Suche nach axionartigen Teilchen, die bei bestimmten Zerfällen des Higgs-Teilchen entstehen könnten – und als neuartige Teilchen die Abweichung des experimentell bestimmten anomalen magnetischen Moments des Myons von seiner theoretischen Vorhersage erklären könnten. Die Arbeiten werden durch einen ERC Consolidator Grant von Matthias Schott finanziert. Sie stellen den experimentellen Test eines von Prof. Dr. Matthias Neubert, theoretischer Physiker und Sprecher von PRISMA+, entwickelten Axionen-Modells dar und sind so ein ideales Beispiel für das wertvolle Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment am Standort Mainz.
Axionen sind hypothetische Elementarteilchen, die zunächst postuliert wurden, um eine theoretische Unzulänglichkeit der starken Wechselwirkung, das sogenannte starke CP Problem, zu lösen. Seit vielen Jahren werden Axionen oder axionartige Teilchen (axion-like particles oder ALPs) darüber hinaus als vielversprechende Kandidaten der dunklen Materie gehandelt. "Vor diesem Hintergrund haben Physikerinnen und Physiker zahlreiche Experimente entwickelt, um vor allem nach sehr leichten ALPs zu suchen", erläutert Prof. Dr. Matthias Schott. "Wir haben erstmals ein detailliertes Forschungsprogramm am ATLAS-Experiment des LHC vorgeschlagen und umgesetzt, mit dem wir gezielt nach relativ schweren ALPs suchen – diese wiederum könnten das Rätsel um das anomale magnetische Moment des Myons erklären, so wie Matthias Neubert es in einem vor einigen Jahren entwickelten Modell aufgezeigt hat." Gemeinsam mit Martin Bauer und Andrea Thamm postulierte Neubert 2017, dass mit ATLAS ein sehr großer Bereich passender Axionenmassen mit sehr hoher Empfindlichkeit abgesucht werden könnte. Für Matthias Schott war dies der Ausgangspunkt zur erfolgreichen Beantragung des ERC Grant: "Ich habe nun mit meiner Gruppe im Rahmen dieses ERC Grant einen großen Teil des Parameter-Raums des Neubert'schen Modells getestet und wir sind sehr froh, dass wir nun erste Ergebnisse veröffentlichen können." Matthias Neubert wiederum hat den zu erwartenden Effekt von ALPs auf das Myonmoment inzwischen in einer aktuellen Veröffentlichung mit Anne Galda noch einmal präzisiert.
Eine innovative experimentelle Leistung
Der Messreihe liegt die Überlegung zugrunde, dass potentielle ALPs sowohl an das Myon als auch an Photonen koppeln müssen, um die Anomalie beim magnetischen Moment des Myons zu erklären. Konkret haben die Forschenden eine theoretisch postulierte Zerfallskette untersucht, bei der ein Higgs-Teilchen zunächst in zwei ALPs, und diese wiederum in jeweils zwei Photonen zerfallen (H aa 4ƴ). Ziel war es, in diese Kette die Kopplung der ALPs an die Photonen nachzuweisen. "Wir haben dabei keine auffälligen Signale gefunden, die auf entsprechende ALPs hinweisen könnten", erläutert Matthias Schott. "In dem untersuchten Bereich können wir so eine Axion-Photon Kopplung mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ausschließen." Da die Forschungsgruppe aber erstmals einen sehr großen Parameterbereich absuchen konnte und vor allem hinsichtlich der Kopplungsstärke um sechs Größenordnungen empfindlicher war als bisherige Messungen, ist es ihnen gelungen, die bisher strengsten Ausschlussgrenzen für Masse und Kopplungsstärke von ALPs zu setzen.
Das Besondere an dieser Messung ist, dass hierbei ALPs potentiell über die Higgs-Physik nachgewiesen werden können. Sie wird im Hochenergiebereich der Teilchenphysik durchgeführt und kann somit die Diskrepanz im anomalen magnetischen Myonmoment über die Umwandlung von Hochenergieteilchen aufspüren. Das ist ein komplementärer Ansatz zur direkten Messung der Eigenschaften des Myons im Niederenergiebereich im Rahmen des Myon g-2 Experiments, und macht ihn gerade deshalb so spannend.
Neue Analyse-Algorithmen beruhen auf künstlicher Intelligenz
Der Zerfallsprozess, den die Gruppe um Matthias Schott untersucht hat, ist vor allem deshalb experimentell sehr anspruchsvoll, weil die nachzuweisenden Photonen aus dem ALP-Zerfall nicht am Kollisionspunkt des Detektors entstehen. "Bei normalen Teilchen-Kollisionen treffen sich die Teilchen immer genau in der Mitte des Detektors. Und alle neuen Teilchen, die in dieser Kollision entstehen, nehmen wir typischerweise an, dass ihre Reise direkt am Kollisionspunkt beginnt. Die normalen Algorithmen und Kalibrationen die wir haben, basieren genau auf dieser Hypothese", erläutert Matthias Schott. "Wenn nun aber neue Teilchen entstehen, welche lange genug 'leben' dann fliegen diese Teilchen erstmal ein Stück bevor sie zerfallen. Damit gilt unsere ursprüngliche Annahme nicht mehr und wir müssen völlig neue Ansätze entwickeln, um auch Teilchen im Detektor zu sehen, welche eben nicht vom Kollisionspunkt stammen." Konkret zerfällt das Higgs-Teilchen im Modell von Matthias Neubert zunächst in zwei ALPs und zwar sofort an der Stelle der Teilchen-Kollision. Die ALPs fliegen aber eine Weile, bevor sie in je zwei Photonen zerfallen, so dass diese Photonen abseits des Kollisionspunktes produziert werden. "Wir nennen dies Ereignisse mit einem 'displaced Vertex' – einem verschobenen Kollisionspunkt sozusagen. Eine solche Messung ist uns nun erstmals mit Photonen gelungen."
Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: Wenn die ALPs vergleichsweise leicht sind, sind die Photonen, in die sie zerfallen, sehr nahe zusammen. Der Detektor nimmt die beiden Photonen als ein einziges Photon war – es sei denn, es gibt einen neuen Algorithmus, der genau darauf trainiert ist: der also Photonen, die eigentlich als ein Photon rekonstruiert wurden, doch als zwei Photonen erkennen kann. "Einen solchen Algorithmus konnten wir unter Verwendung künstlicher Intelligenz in Form von neuronalen Netzwerken entwickeln und so Signale von hochgradig kollinearen Photonen erfolgreich auflösen."
Doch es geht noch weiter: Selbst mit den speziell entwickelten Algorithmen, mit denen die Forscher einen sehr großen Suchbereich abdecken können, können sie nicht alle ALPs, die sie ins Visier nehmen wollen, "erwischen". Um auch diese Lücke zu schließen, wollen sie das inzwischen in Betrieb gegangene FASER Experiment in einem Seitentunnel des LHC etwa 480 Meter hinter dem ATLAS-Experiment nutzen.
Das Myon als Testlabor für neue Physik
Erst kürzlich hat die Myon g-2 Kollaboration am Fermilab einen neuen Messwert für das anomale magnetische Moment verkündet, der doppelt so genau ist, wie der bisherige. Die PRISMA+-Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Martin Fertl ist die einzige in Deutschland, die mit experimentellen Beiträgen beteiligt ist. Das Pendant ist die Myon g-2-Theorie-Initiative, ein weltweiter Zusammenschluss von mehr als 130 Physikerinnen und Physikern, der sich mit der theoretischen Vorhersage im Rahmen des Standardmodells befasst. Auch hier liefern die Mainzer Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Achim Denig, Prof. Dr. Harvey Meyer, Prof. Dr. Marc Vanderhaeghen und Prof. Dr. Hartmut Wittig zahlreiche wichtige Beiträge - von der Messung experimenteller Input-Größen bis hin zur hochpräzisen Berechnung der Beiträge der starken Wechselwirkung mit den Methoden der Gitter-Quantenchromodynamik auf dem Mainzer Großrechner MOGON-II.
Aufgrund neuester Rechnungen ist nach wie vor nicht eindeutig geklärt, ob es eine echte Abweichung zwischen Theorie und Experiment gibt und wenn es sie gibt, mit welchen theoretischen Ansätzen sie zu erklären wäre. Es demonstriert aber einmal mehr die große Expertise des Mainzer Cluster PRISMA+ bei der Suche nach neuer Physik – und hier insbesondere beim Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment sowie der Nutzung komplementärer Methoden zur Beantwortung der großen Fragen der modernen Physik. "Unsere heute veröffentlichte Arbeit ist hier ein wichtiger Beitrag, gleichwohl sie zeigt, dass der Raum für Modelle neuer Physik, die wir experimentell testen können, immer kleiner wird", ordnet Matthias Schott das Ergebnis ein. "Bezogen auf ALPs sind diese nach wie vor vielversprechende Kandidaten für dunkle Materie, als Verursacher einer Diskrepanz beim magnetischen Moment des Myons können wir sie jedoch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausschließen."