Mainzer und Münchner Forscher entdecken neuen Quantenzustand der Materie

Realisierung eines neuen Quantenzustands der Materie

21.05.2004

In der Natur existieren zwei fundamentale Arten von Teilchen, sogenannte Bosonen und Fermionen. Treffen mehrere Bosonen oder mehrere Fermionen aufeinander, so zeigen sie ein ausgeprägt unterschiedliches "Sozialverhalten": während Bosonen eher geselliger Natur sind und sich bevorzugt so nahe wie möglich beieinander aufhalten, sind Fermionen Einzelgänger, die den Kontakt zu anderen Fermionen vermeiden. In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Nature berichten Forscher des Max-Planck Instituts für Quantenoptik in Garching und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) nun über die Realisierung eines neuen Quantenzustands der Materie, in dem sich die geselligen Bosonen bei ultrakalten Temperaturen wie einzelgängerische Fermionen verhalten. Solch ein Gas von "fermionisierten" Bosonen – ein sogenanntes Tonks-Girardeau Gas – geht auf etwa 40 Jahre alte Ideen des amerikanischen Physikers Marvin D. Girardeau zurück und konnte nun erstmals realisiert werden.

Das "Sozialverhalten" von Atomen oder subatomaren Teilchen hängt allein von ihrem Eigendrehimpuls, dem sogenannten Spin, ab. Dieser gibt an, wie schnell sich ein Teilchen um sich selbst dreht. Teilchen mit einem ganzzahligen Spin werden als Bosonen bezeichnet und gemäß der Quantenmechanik besetzen identische Bosonen bevorzugt denselben Quantenzustand bei tiefen Temperaturen. Such ein kollektives Verhalten führt zu spektakulären Phänomenen wie der Bose-Einstein-Kondensation oder der Erzeugung von Laserlicht. Alle anderen Teilchen besitzen einen halbzahligen Spin. Diese Teilchen werden als Fermionen bezeichnet und können sich gemäß der Quantenmechanik nicht im selben Quantenzustand aufhalten. Dieses "Ausschlussprinzip" erklärt unter anderem die Besetzung der diskreten Energieniveaus eines Atoms mit Elektronen, die einen Spin von 0,5 besitzen, sowie die Eigenschaften von elektrischen Leitern.

Ein solch typisches fermionisches oder bosonisches Verhalten kann jedoch komplett verändert werden, wenn starke Wechselwirkungen zwischen den Atomen vorliegen. Kürzlich konnte zum Beispiel gezeigt werden, daß Fermionen mit einer attraktiven Wechselwirkung untereinander sich zu Bosonen vereinigen können. Dies führt zu einer erstaunlichen Änderung der Quanteneigenschaften und zu makroskopischen Quantenphänomenen wie der Supraleitung oder der jüngst entdeckten Bose-Einstein-Kondensation von Molekülen aus fermionischen Atomen.

Nun konnten Forscher des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik um Belén Paredes, Ignacio Cirac und Theodor W. Hänsch, mit Kollegen der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz um Immanuel Bloch, zeigen, dass Bosonen sich unter speziellen Bedingungen wie Fermionen verhalten können. Mit ihren Resultaten konnten die Forscher zum ersten Mal einen neuen Quantenzustand der Materie erreichen, der vor nahezu 40 Jahren von dem amerikanischen Physiker Marvin D. Girardeau vorausgesagt worden ist und als Tonks-Girardeau Gas bezeichnet wird. In solch einem Gas aus Bosonen können sich die Teilchen nur entlang einer Raumrichtung bewegen. Zusätzlich wirkt einen starke abstoßende Wechselwirkung zwischen den Teilchen. Diese verhindert, dass sich zwei Atome nahe kommen können und imitiert damit das Ausschlussprinzip für Fermionen. Unter solchen Bedingungen zeigen die Bosonen ausgeprägte fermionische Eigenschaften. So würde zum Beispiel eine Messung des Dichteprofils des gefangenen Gases keine Unterschiede zwischen Fermionen und Bosonen aufweisen. Interessanterweise ist das Verhalten der stark wechselwirkenden Bosonen jedoch nicht vollständig fermionischer Natur. Wie Fermionen versuchen die "fermionisierten" Bosonen sich weit voneinander wegzubewegen. Sie sind andererseits aber nicht ganz so wählerisch wie ihre fermionischen Kollegen, und es macht ihnen nichts aus den gleichen Geschwindigkeitszustand zu besetzen. Dies führt zu einer charakteristischen Geschwindigkeitsverteilung der "fermionisierten" Bosonen in einem Tonks-Girardeau Gas, die weder der eines Bose-Einstein-Kondensats noch der eines Gases aus Fermionen entspricht.

Um diesen verblüffenden neuen Quantenzustand der Materie zu erreichen, mussten die Forscher mit einem ultrakalten Quantengas aus Bosonen – einem Bose-Einstein-Kondensat – mit einer Temperatur von wenigen hundert Nano-Kelvin beginnen. In einem solchen Bose-Einstein-Kondensat besetzen alle bosonischen Atome einen einzigen Quantenzustand. Dies wurde von Albert Einstein (1879-1955) und Satyendra Nath Bose (1894-1974) 1925 vorausgesagt. Für die erstmalige Realisierung im Jahre 1995 wurde der Nobelpreis in Physik 2001 vergeben.

Um die Bewegung der Atome auf eine Raumrichtung zu beschränken haben die Forscher zunächst mit Hilfe von Laserlicht eine Falle aus mikroskopischen Potentialröhren erzeugt. Dies wird erreicht, indem am Ort des Bose-Einstein-Kondensats mehrere Laserstrahlen überlagert werden, deren Interferenzmuster ein Gitter aus Lichtröhren erzeugt. Wird die Intensität des Laserlichts nun langsam erhöht, so verteilen sich die Atome des Bose-Einstein-Kondensats auf mehrere tausend dieser Lichtröhren. In jeder dieser eng einschließenden Mikrofallen können sich die Atome nur entlang der Röhre bewegen, da die radiale Bewegung bei den ultrakalten Temperaturen komplett ausgefroren ist. So kann die Bewegung der Atome auf eine Dimension eingeengt werden – die Atome können sich nicht seitwärts bewegen sondern nur entlang einer Raumrichtung, ganz anders als wir dies aus unserer dreidimensionalen Umwelt gewohnt sind.

Die üblichen repulsiven Wechselwirkungen zwischen den bosonischen Atomen sind jedoch noch zu schwach, um zu einem fermionischen Verhalten zu führen. Um sie weiter zu erhöhen haben die Forscher eine neue Idee vorgeschlagen und umgesetzt: mit Hilfe eines dritten schwachen periodischen Potentials entlang der Röhren verhalten sich die Atome wie effektiv schwerere Teilchen, da sie nun in ihrer Bewegung entlang der Röhren zusätzlich die Berge und Täler überwinden müssen. Hierdurch kann die Bewegungsenergie der Teilchen gegenüber der Wechselwirkungsenergie herabgesetzt werden. Die Wechselwirkungen spielen dann eine dominierende Rolle für die Dynamik der Atome und sorgen für die Fermionisierung der Bosonen.

Um nachzuweisen, dass tatsächlich ein solches Tonks-Girardeau Gas erzeugt wurde, haben die Forscher eine theoretische Voraussage über die Geschwindigkeitsverteilung der Atome in den Potentialröhren errechnet, die auf der Annahme von "fermionisierten" Bosonen beruht. Diese Voraussagen konnten mit den experimentell gemessenen Verteilungen verglichen werden, wobei eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment festgestellt wurde.

Hier muss man jedoch in der Bosonen-Fermionen Masquerade keineswegs halt machen: für zukünftige Experimente haben Belén Paredes und Ignacio Cirac vorausgesagt, daß solche "fermionisierten" Bosonen sich zu Paaren zusammenschließen können, welche sich wiederum wie Bosonen verhalten, ähnlich wie Cooper-Paare in einem Supraleiter, was die Forscher in neuen Experimenten zu untersuchen planen.