Entdeckung genetischer Faktoren mit Einfluss auf den Prozess der Autophagie
27.09.2017
Forscher am Institut für Molekulare Biologie (IMB) in Mainz haben einen Durchbruch bei der Erforschung des Alterungsprozesses erzielt. Beim Fadenwurm der Art Caenorhabditis elegans haben Dr. Holger Richly und seine Kollegen genetische Faktoren entdeckt, die das Altern im jungen Tier verlangsamen, es jedoch im fortgeschrittenen Lebensalter beschleunigen. Erstaunlicherweise steuern die identifizierten Gene den intrazellulären Prozess der Autophagie, der nicht mehr funktionsfähige Zellbestandteile abbaut und dem allgemein gesundheitsfördernde Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Forschungsergebnisse wurden in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Genes & Development veröffentlicht und liefern erste Hinweise darauf, wie der Alterungsprozess als zwangsläufiges Nebenprodukt der Evolution entstanden ist. In ihrer Publikation zeigen die Wissenschaftler, dass die Lebensspanne verlängert wird, wenn der Autophagieprozess in älteren Tieren herunterreguliert wird, was zu einer Erhaltung gesunder Nervenzellen und ganz allgemein zu einer Verbesserung der Gesundheit führt. Diese neu gewonnenen Erkenntnisse könnten auch Bedeutung für die Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Chorea Huntington haben, in denen der Autophagieprozess ebenfalls eine Rolle spielt.
Jeder Mensch und fast jede Spezies auf unserem Planeten altert. Die Frage ist jedoch: Warum? Gemäß der Evolutionstheorie von Charles Darwin führt natürliche Selektion dazu, dass Lebewesen, die sich optimal an einen Lebensraum anpassen, größere Chancen haben zu überleben und ihre Gene an die folgenden Generationen weiterzugeben. Je erfolgreicher die Eigenschaften bestimmter Gene die Fortpflanzung unterstützen, desto stärker wird für diese Gene selektiert. Auf dieser Grundlage entwickelte George C. Williams im Jahr 1957 mit der antagonistischen Pleiotropie (AP) eine Hypothese des Alterns, die besagt, dass die Evolution Gene selektiert, die vorteilhaft in der Jugend und Fortpflanzungsperiode sind, aber negative Auswirkungen im Alter haben. Obwohl diese Theorie mathematisch untermauert ist, gab es bislang kaum einen experimentellen Beweis dafür, dass sich Gene gemäß dieser Hypothese verhalten.
In ihrer nun vorliegenden Publikation "Neuronal inhibition of the autophagy nucleation complex extends lifespan in post-reproductive C. elegans" haben Dr. Holger Richly und sein Labor am IMB in Mainz gezeigt, dass viele Gene ein AP-Verhalten zeigen und somit den Alterungsprozess stark beschleunigen. Obwohl das Forscherteam mit 800 von rund 20.000 Genen nur einen Bruchteil des Genoms von Caenorhabditis elegans untersucht hat, konnten die Wissenschaftler eine sehr beachtliche Anzahl von 30 Genen finden, die sich gemäß der AP-Theorie verhalten. "Wenn man bedenkt, dass wir lediglich vier Prozent aller Gene des Wurms in unserem Screen getestet haben, ist davon auszugehen, dass noch viele andere AP-Gene identifiziert werden können", betont Jonathan Byrne, ehemaliger Doktorand im Labor von Dr. Holger Richly am IMB und einer der beiden Hauptautoren der Studie.
"Der Beweis, dass das Altern durch die Evolution angetrieben wird, war nicht die einzige Überraschung unserer Forschung", fügt Thomas Wilhelm, Ko-Hauptautor der Veröffentlichung, hinzu. "Am meisten überrascht hat uns die Erkenntnis, an welchen fundamentalen biologischen Prozessen die identifizierten Gene beteiligt sind." So stellten die Wissenschaftler fest, dass die Autophagie, die ein essenzieller zellulärer Recyclingprozess ist, der normalerweise zur Erhaltung der Lebensfunktionen und für die Langlebigkeit benötigt wird, ein sehr starkes AP-Verhalten aufzeigt. "An dieser Stelle wurde unsere Forschung wirklich faszinierend", so Dr. Holger Richly, Forschungsgruppenleiter am IMB und Projektleiter dieser Studie. Man weiß, dass der Autophagieprozess mit zunehmendem Alter immer schlechter funktioniert, aber die Autoren der Studie zeigen, dass er in älteren Würmern komplett funktionsuntüchtig und sogar schädlich ist. So konnten die Molekularbiologen zeigen, dass ein Herunterregulieren von Schlüsselgenen, die den Autophagieprozess einleiten, zu einer dramatischen Verlängerung der Lebensspanne führt.
"Diese Ergebnisse sollten uns nachdenklich machen und dazu führen, unsere Theorien über die Autophagie kritisch zu überdenken", schlussfolgert Dr. Holger Richly und erklärt: "Autophagie wird bislang fast immer als vorteilhaft gesehen, selbst wenn sie kaum noch funktioniert. Im Gegensatz dazu zeigen wir die schweren, negativen Konsequenzen, die auftreten können, wenn die Autophagie spät im Leben nach und nach zusammenbricht, und dass es vermutlich besser wäre, wenn man die Autophagie im Alter umgehen könnte. Das ist klassische antagonistische Pleiotropie: In jungen Würmern funktioniert die Autophagie einwandfrei und ist essenziell für die Entwicklung des Lebewesens, aber nach der Reproduktion wird sie fehlerhaft und bewirkt, dass die Tiere altern."
Im Rahmen ihrer Forschung ist es Richly und seinem Team gelungen, den Ursprung des Alterungsphänotyps mit einem spezifischen Gewebe, den Neuronen, in Verbindung zu bringen. Wenn die Autophagie in den Nervenzellen alter Würmer deaktiviert wurde, führte dies nicht nur zu einer Verlängerung der Lebensspanne, sondern auch zu einer drastischen Verbesserung der Gesundheit der Tiere. "Es ist in etwa so, als würden wir ab der Hälfte unseres Lebens ein Medikament einnehmen, das uns hilft, fit und jung zu bleiben und länger zu leben. So in etwa muss es für die Würmer sein", sagt Thomas Wilhelm. "Wir schalten die Autophagie nur in einem Gewebe ab und im gesamten Tier findet eine Veränderung statt. Die Neuronen in den behandelten Würmern sind gesünder und wir glauben, dass dies der Grund dafür ist, dass der übrige Körper und insbesondere die Muskulatur gesund bleiben. Unterm Strich führt das zu einer Lebensverlängerung um 50 Prozent."
Obwohl die Autoren noch nicht genau wissen, welcher Mechanismus die Neuronen gesund hält, könnten die Ergebnisse der Studie wichtige Hinweise liefern. "Es gibt viele neuronale Erkrankungen, die mit dysfunktionaler Autophagie in Zusammenhang stehen, wie etwa Alzheimer, Parkinson und Chorea Huntington. Es wäre möglich, dass die in unserer Studie identifizierten Autophagie-Gene neue Therapiemöglichkeiten eröffnen", so Wilhelm. Obwohl solche Behandlungen im Moment noch weit entfernt scheinen, ist die Möglichkeit, dass sich die neuen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen, vielversprechend.
Das Institut für Molekulare Biologie gGmbH
Das Institut für Molekulare Biologie gGmbH (IMB) ist ein 2011 auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gegründetes Exzellenzzentrum der Lebenswissenschaften. Die Spitzenforschung am IMB konzentriert sich auf drei wichtige Schwerpunkte: Epigenetik, Entwicklungsbiologie und Genomstabilität. Das Institut ist ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit öffentlicher Behörden mit einer Privatstiftung. Die Boehringer Ingelheim Stiftung (BIS) stellt über einen Zeitraum von zehn Jahren eine Summe von 100 Millionen Euro bereit, um die Betriebskosten für die Forschung am IMB abzudecken, während das Bundesland Rheinland-Pfalz rund 50 Millionen Euro in den Bau eines zukunftsweisenden Gebäudes investierte. Im Mai 2018 haben die BIS und das Bundesland Rheinland-Pfalz weitere 54 Millionen Euro bzw. 52 Millionen Euro für den Betrieb des IMB zugesagt.
Die Boehringer Ingelheim Stiftung
Die Boehringer Ingelheim Stiftung ist eine rechtlich selbstständige, unabhängige, gemeinnützige Stiftung mit dem Ziel der Förderung der medizinischen, biologischen, chemischen und pharmazeutischen Wissenschaft. Sie wurde 1977 von Hubertus Liebrecht, einem Mitglied der Gesellschafterfamilie des Unternehmens Boehringer Ingelheim, ins Leben gerufen. Mit ihrem Perspektiven-Programm "Plus 3" und den Exploration Grants fördert sie bundesweit exzellente unabhängige Nachwuchsforschergruppen. Außerdem dotiert sie den international angesehenen Heinrich-Wieland-Preis sowie Preise für Nachwuchswissenschaftler und fördert für zehn Jahre den wissenschaftlichen Betrieb des Instituts für Molekulare Biologie (IMB) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit 100 Millionen Euro. Seit 2013 fördert sie ebenfalls über zehn Jahre die Lebenswissenschaften an der JGU mit insgesamt 50 Millionen Euro.