Mainzer Forschungsgruppen gehören IceCube-Konsortium bereits seit 1999 an
04.11.2022
PRESSEMITTEILUNG DER ICECUBE-KOLLABORATION
Ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat erstmals Beweise für die Emission hochenergetischer Neutrinos aus der Galaxie NGC 1068, auch bekannt als Messier 77, gefunden. NGC 1068 ist eine aktive Galaxie im Sternbild Cetus und eine der bekanntesten und am besten untersuchten Galaxien überhaupt. Sie wurde erstmals 1780 entdeckt, ist 47 Millionen Lichtjahre von uns entfernt und kann mit einem großen Fernglas beobachtet werden. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachjournal Science veröffentlicht.
Die Entdeckung wurde am von der National Science Foundation unterstützten IceCube-Neutrino-Observatorium gemacht, einem gewaltigen Neutrinoteleskop, das eine Milliarde Tonnen instrumentiertes Eis in einer Tiefe von 1,5 bis 2,5 Kilometern unter der Oberfläche der Antarktis in der Nähe des Südpols umfasst. Dieses einzigartige Teleskop, das mithilfe von Neutrinos die entlegensten Bereiche unseres Universums erforscht, meldete die erste Beobachtung einer hochenergetischen astrophysikalischen Neutrinoquelle im Jahr 2018. Bei der Quelle, TXS 0506+056, handelt es sich um einen bekannten Blazar, der sich in der linken Schulter des Sternbilds Orion in vier Milliarden Lichtjahren Entfernung befindet. Damals war noch eine Bestätigung durch optische Teleskope notwendig, um die Quelle sicher zu identifizieren. Diesmal wurden jedoch über einen Zeitraum von zehn Jahren genug Neutrinos von IceCube allein entdeckt.
"Ein einziges Neutrino kann eine Quelle ausmachen. Aber nur eine Beobachtung mit mehreren Neutrinos kann den verborgenen Kern der energiereichsten kosmischen Objekte aufdecken", erläutert dazu Prof. Francis Halzen, Physiker an der University of Wisconsin-Madison und leitender Forscher von IceCube. Er fügt hinzu: "IceCube hat etwa 80 Neutrinos mit einer Energie im Bereich von Teraelektronenvolt aus NGC 1068 gesammelt, die noch nicht ausreichen, um alle unsere Fragen zu beantworten, aber sie sind definitiv der nächste große Schritt zur Verwirklichung der Neutrinoastronomie."
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Sebastian Böser und früher Prof. Dr. Lutz Köpke vom Institut für Physik und vom Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gehören bereits seit 1999 dem IceCube-Konsortium an, das auch durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. "Die Herkunft von Neutrinos bis in die Tiefen des Weltalls zurückverfolgen zu können – genau hierfür wurde IceCube ursprünglich geplant. Nach dieser langen Zeit ist es ein tolles Gefühl, unsere Ziele verwirklicht zu sehen. Wir sind sehr stolz, dass wir nach einer ganzen Reihe bemerkenswerter Resultate nun auch dieses herausragende Ergebnis als Kollaboration erreicht haben", freut sich Prof. Dr. Sebastian Böser.
Neutrinos bewegen sich ungehindert im Weltall
Anders als Licht können Neutrinos in großer Zahl aus extrem dichten Umgebungen im Universum entweichen. Sie erreichen die Erde weitgehend ungestört von Materie und elektromagnetischen Feldern, die den extragalaktischen Raum durchdringen und behalten dabei ihre ursprüngliche Flugrichtung immer bei. Obwohl Wissenschaftler die Neutrinoastronomie bereits vor mehr als 60 Jahren ins Auge gefasst hatten, ist der Nachweis der geisterhaften Teilchen aufgrund ihrer schwachen Wechselwirkung mit Materie und Strahlung äußerst schwierig. Wenn er gelingt, könnten Neutrinos jedoch der Schlüssel sein, um Einblicke in die extremsten Objekte im Kosmos zu erhalten.
Wie unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, ist auch NGC 1068 eine Balkenspiralgalaxie mit locker gewundenen Armen und einem relativ kleinen zentralen Wulst. Im Gegensatz zur Milchstraße ist NGC 1068 eine aktive Galaxie, bei der die meiste Strahlung nicht von Sternen erzeugt wird, sondern von Material, das in ein Schwarzes Loch fällt, das Millionen Mal massiver ist als unsere Sonne und sogar noch massiver als das inaktive Schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxie. NGC 1068 ist eine Galaxie vom Typ Seyfert II, die aus einem solchen Winkel betrachtet wird, dass der zentrale Bereich, in dem sich das Schwarze Loch befindet, verdeckt ist. In einer Seyfert-II-Galaxie verdeckt ein Torus aus Kernstaub den größten Teil der hochenergetischen Strahlung, die von der dichten Gas- und Teilchenmasse erzeugt wird, die sich langsam spiralförmig zum Zentrum der Galaxie bewegt.
In vielen Modellen würde man erwarten, dass die Neutrinos von hochenergetischen Gammastrahlen begleitet werden. Dies wurde – in Übereinstimmung mit aktuellen Modellen – aber nicht beobachtet. "Neuere Modelle der Umgebung von Schwarzen Löchern in diesen Objekten legen nahe, dass Gas, Staub und Strahlung die Gammastrahlen blockieren sollten, die sonst die Neutrinos begleiten würden", sagt Hans Niederhausen, Postdoktorand an der Michigan State University und Mitglied von IceCube. "Dieser Neutrinonachweis aus dem Kern von NGC 1068 wird unser Verständnis der Umgebung von supermassiven Schwarzen Löchern verbessern."
Im Gegensatz zur Quelle TXS 0506+056, die nur für eine kurze Zeit aktiv war, sendet NGC 1068 einen kontinuierlichen Fluss von Neutrinos. "Ich denke, NGC 1068 könnte eine Referenzgalaxie für zukünftige Neutrinoteleskope werden", so Dr. Theo Glauch, Postdoktorand an der Technischen Universität München (TUM) und Mitglied von IceCube. "Sie ist ein astronomisch bereits sehr gut untersuchtes Objekt. Die Neutrinos werden es uns ermöglichen, diese Galaxie auf eine völlig andere Weise zu sehen und neue Erkenntnisse zu gewinnen."
"Dieses Ergebnis ist eine deutliche Verbesserung gegenüber einer früheren Studie über NGC 1068, die 2020 veröffentlicht wurde", ergänzt Prof. Ignacio Taboada, Physiker am Georgia Institute of Technology und Sprecher der IceCube Kollaboration. "Teils ist die Verbesserung auf optimierte Messtechniken, teils auf eine sorgfältige Aktualisierung der Detektorkalibrierung zurückzuführen. Die Arbeit der Teams für den Betrieb und die Kalibrierung des Detektors ermöglichte es, die Neutrinorichtung besser zu rekonstruieren und so NGC 1068 genau lokalisieren zu können. Die Identifizierzung dieser Quelle ist somit letztlich ein Ergebnis der harten Arbeit der IceCube-Kollaboration."
"Das ist eine großartige Nachricht für die Zukunft unseres Fachgebiets. Es bedeutet, dass es mit einer neuen Generation von empfindlicheren Detektoren noch viel zu entdecken geben wird. Das zukünftige IceCube-Gen2-Observatorium könnte nicht nur viel mehr dieser extremen Teilchenbeschleuniger aufspüren, sondern auch ihre Untersuchung bei noch höheren Energien ermöglichen. Es ist, als ob IceCube uns eine Karte zu einer Schatzkammer übergeben hat", sagt Prof. Dr. Marek Kowalski, leitender Wissenschaftler am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY).
Mit den Neutrinomessungen von TXS 0506+056 und NGC 1068 ist IceCube der Antwort auf die jahrhundertealte Frage nach dem Ursprung der kosmischen Strahlung einen Schritt näher gekommen. Noch interessanter ist, dass diese Ergebnisse auch darauf hindeuten, dass es noch viele weitere ähnliche Objekte gibt, die noch nicht identifiziert wurden. "Die Enthüllung des undurchsichtigen Universums hat gerade erst begonnen und die Neutrinos werden eine neue Ära der Entdeckungen in der Astronomie einleiten", betont Prof. Dr. Elisa Resconi, Professorin für Physik an der TUM.