Mainzer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an internationaler Studie beteiligt / Veröffentlichung in Nature
28.07.2022
In einer neuen in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie widerlegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Bristol, des University College London (UCL) und der Johannes Gutenberg Universität Mainz (JGU) zusammen mit Kollegen aus 20 anderen Ländern einige langjährige Annahmen darüber, warum der Mensch als Erwachsener die Fähigkeit entwickelt hat, den Milchzucker Laktose zu verdauen. Bislang wurde weithin angenommen, dass die Laktosetoleranz entstand, weil sie dem Menschen erlaubte, mehr Milch und Milchprodukte zu konsumieren. Die neue Forschung legt jedoch eine andere Ursache nahe: Durch die Kartierung der Muster des Milchkonsums in den letzten 9.000 Jahren, die Untersuchung der UK Biobank und die Kombination alter DNA-, Radiokohlenstoff- und archäologischer Daten mithilfe neuer Computermodellierungstechniken konnte das Team zeigen, dass Hungersnöte und die Belastung durch Krankheitserreger die Entwicklung der Laktosetoleranz am besten erklären.
Die meisten erwachsenen Europäer können heute Milch trinken, ohne sich dabei unwohl zu fühlen – für viele eine Selbstverständlichkeit. Aber für zwei Drittel der Erwachsenen heute und für fast alle Erwachsenen vor 5.000 Jahren ist bzw. war es ein Problem, zu viel Milch zu sich zu nehmen. Das liegt daran, dass Milch Laktose enthält. Wenn wir diesen einzigartigen Zucker nicht verdauen, gelangt er in unseren Dickdarm, wo er Krämpfe, Durchfall und Blähungen verursachen kann – eine Gruppe von Symptomen, die zusammen als Laktoseintoleranz bekannt sind. Die neuen Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese Auswirkungen beispielsweise im Vereinigten Königreich heute selten sind.
Um Laktose zu verdauen, müssen wir das Enzym Laktase in unserem Darm produzieren. Fast alle Säuglinge produzieren Laktase, aber bei den meisten Menschen weltweit nimmt diese Produktion zwischen dem Abstillen und dem Jugendalter rasch ab. Ein genetisches Merkmal, die sogenannte Laktasepersistenz, hat sich jedoch in den letzten 10.000 Jahren mehrfach entwickelt und in verschiedenen milchtrinkenden Bevölkerungsgruppen in Europa, Zentral- und Südasien, dem Nahen Osten und Afrika verbreitet. Heute ist etwa ein Drittel der Erwachsenen in der Welt laktasepersistent.
Frühere genetische Studien – insbesondere solche, bei denen DNA aus prähistorischen menschlichen Überresten verwendet wurde – haben gezeigt, dass die Laktasepersistenz das vorteilhafteste einzelne Genmerkmal war, das sich in Europa (zumindest) in den letzten 10.000 Jahren entwickelt hat. "Die genetische Variante der Laktasepersistenz wurde durch eine Art turbogeladene natürliche Selektion auf eine hohe Frequenz gebracht", so Prof. Mark Thomas, einer der Autoren der Studie. "Das Problem: Eine solch starke natürliche Selektion ist schwer zu erklären."
"Um zu verstehen, wie sich die Laktasepersistenz entwickelt hat, müssen wir zunächst wissen, wo und wann die Menschen Milch konsumiert haben", ergänzt Prof. Richard Evershed, Hauptautor der Studie. Evershed und sein Team von der University of Bristol leisteten Pionierarbeit bei der Erkennung von Milchfetten, die von archäologischen Gefäßen aufgenommen wurden. In dieser Studie stellten sie eine in der Größe noch nie dagewesene Datenbank mit fast 7.000 organischen Rückständen aus archäologischen Keramikgefäßen zusammen. Daraus geht hervor, dass Milch in der europäischen Vorgeschichte seit den Anfängen der Landwirtschaft vor fast 9.000 Jahren in großem Umfang verwendet wurde, wobei die Verwendung in verschiedenen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten zu- und abnahm.
Untersuchungen der Mainzer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Mit diesem neuen und detaillierten Bild der prähistorischen Milchverwendung konnten sich die Forscherinnen und Forscher nun der Frage zuwenden, wie dies mit der Evolution der Laktasepersistenz zusammenhängt. Das UCL- und JGU-Team stellte unter der Leitung von Prof. Mark Thomas zunächst eine Datenbank über das Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein der genetischen Variante der Laktasepersistenz zusammen, indem veröffentlichte alte DNA-Sequenzen von mehr als 1.700 prähistorischen Individuen zusammengetragen wurden. Sie entdeckten sie erstmals vor etwa 5.000 Jahren. Vor 3.000 Jahren war sie bereits in nennenswerter Häufigkeit vorhanden und ist heute besonders in Nordeuropa sehr häufig. Als nächstes entwickelte das Team einen neuen statistischen Ansatz, um zu untersuchen, inwieweit Veränderungen im Milchkonsum im Laufe der Zeit die natürliche Selektion für Laktasepersistenz erklären. Bemerkenswerterweise fanden sie keinen Zusammenhang, obwohl sie mit Simulationen zeigen konnten, dass sie diesen Zusammenhang erkennen würden, wenn er denn bestünde.
Diese Ergebnisse stellen die seit Langem vertretene Ansicht in Frage, dass das Ausmaß des Milchkonsums die Entwicklung der Laktasepersistenz vorantrieb. Zudem war die Untersuchung viele neue Fragen auf: Wenn es nicht der Milchkonsum war, was trieb dann diese turbogeladene natürliche Selektion an?
Prof. George Davey Smith, Direktor der MRC Integrative Epidemiology Unit an der University of Bristol, untersuchte die Daten der UK Biobank, die genetische und medizinische Daten von mehr als 300.000 lebenden Personen enthält. Er fand nur minimale Unterschiede im Milchtrinkverhalten zwischen genetisch laktasepersistenten und nicht-persistenten Personen. Entscheidend ist, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, die genetisch gesehen keine Laktasepersistenz aufweisen, keine langfristigen negativen gesundheitlichen Auswirkungen des Milchkonsums verspüren. Dies deutet darauf hin, dass neben dem bloßen Vorhandensein von Milch in der prähistorischen Ernährung bisher unbekannte Faktoren für den raschen Anstieg der Laktasepersistenz verantwortlich sind.
"Kurz gesagt war der Milchkonsum in Europa mindestens 9.000 Jahre lang weit verbreitet und gesunde Menschen, auch solche, die keine Laktasepersistenz haben, konnten problemlos Milch konsumieren, ohne krank zu werden. Bei Personen, die keine Laktasepersistenz aufweisen, führt der Milchkonsum jedoch zu einer hohen Laktosekonzentration im Darm, die Flüssigkeit in den Dickdarm ziehen kann, was in Verbindung mit Durchfallerkrankungen zu Dehydrierung führen kann", so Smith. "Ich vermute, dass dieser Prozess zu einer hohen Sterblichkeit führen könnte, wenn die Belastung durch Infektionskrankheiten zunimmt, da die Populationsgrößen und -dichten auf ein Niveau ansteigen, bei dem einige Infektionserreger kontinuierlich in ihnen zirkulieren können."
Prof. Mark Thomas stellte ähnliche Überlegungen an, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf prähistorische Hungersnöte: "Wenn man gesund, aber nicht laktasepersistent ist und viel Milch trinkt, kann man Krämpfe bekommen, vielleicht auch Durchfall und Blähungen. Das ist nicht angenehm, aber auch nicht tödlich. Wenn Sie jedoch stark unterernährt sind und Durchfall haben, dann haben Sie lebensbedrohliche Probleme. Und vielleicht ist das die beschleunigte natürliche Auslese, nach der wir suchen. Wenn ihre Ernten ausfielen, konsumierten prähistorische Menschen eher unfermentierte Milch mit hohem Laktosegehalt – genau dann, wenn sie es nicht hätten tun sollten."
Um diese Ideen zu testen, hat das Team um Prof. Mark Thomas Indikatoren für vergangene Hungersnöte und die Belastung durch Krankheitserreger in ihre neue statistische Methode integriert. Dr. Yoan Diekmann, Bioinformatiker an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), fasst zusammen: "Die Ergebnisse stützen eindeutig beide Erklärungen – die Laktasepersistenz-Genvariante war einer stärkeren natürlichen Selektion unterworfen, wenn es Anzeichen für größere Hungersnöte und mehr Krankheitserreger gab."
Die neue Forschung zeigt, dass die Gesundheit der Menschen in der späteren Vorgeschichte, als die Bevölkerung und die Siedlungsgröße wuchsen, zunehmend durch schlechte sanitäre Verhältnisse und zunehmende Durchfallerkrankungen, vor allem tierischen Ursprungs, beeinträchtigt wurde. Unter diesen Bedingungen hätte der Verzehr von Milch zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate geführt, wobei Menschen ohne Laktasepersistenz besonders gefährdet gewesen wären. Diese Situation hätte sich unter den Bedingungen einer Hungersnot noch weiter verschärft, wenn Krankheiten und Unterernährung zunehmen. Dies würde dazu führen, dass Individuen, die keine Kopie der Laktasepersistenz-Genvariante in sich tragen, mit größerer Wahrscheinlichkeit vor oder während ihrer reproduktiven Jahre sterben, was die Prävalenz der Laktasepersistenz in der Bevölkerung in die Höhe treiben würde. "Es scheint, dass die gleichen Faktoren, die heute die menschliche Sterblichkeit beeinflussen, die Entwicklung dieses erstaunlichen Gens in der Vorgeschichte vorangetrieben haben", so Dr. Yoan Diekmann.