Aktuelle Entwicklungen zeigen Elemente der alten Hexenlehre / Hexenverfolgungen auch noch im 21. Jahrhundert dokumentiert
02.03.2021
Der Glaube an Hexen und die Angst vor ihnen ist mit dem Ende der Hexenprozesse in Europa keineswegs völlig verschwunden. Rund 250 Jahre sind inzwischen vergangen, aber noch immer finden in westlichen Gesellschaften Ideen und Konzepte, die Anleihen bei altem Hexenglauben nehmen, ihre Anhänger. In anderen Regionen der Erde sind Hexenverfolgungen bis heute dokumentiert. Vor diesem Hintergrund ist nach Einschätzung von Prof. Dr. Johannes Dillinger, Historiker an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Oxford Brookes University, ein besseres historisches Verständnis der Hexenangst dringend nötig. "Tatsächlich kursieren viele falsche Vorstellungen über die Zeit der Hexenverfolgung. Nur durch die Aufarbeitung der Ereignisse – auch der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit – kann der Hexenverfolgung überall und endgültig begegnet werden", sagt Dillinger. Der Geschichtswissenschaftler forscht seit 1994 auf diesem Gebiet und hat dazu eine Reihe von Monografien und Artikeln veröffentlicht.
Hexendiskurs hat elitenfeindliche Spitze
Dass der Hexenglaube aus der modernen westlichen Welt nicht verschwunden ist, zeigen nach Einschätzung von Dillinger die Verschwörungsmythen, die mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar in Washington verknüpft sind. Teil dieser Mythen sind Behauptungen, dass eine Verschwörung von Mitgliedern der Oberschicht nicht nur Kinder entführe, foltere, missbrauche und töte, sondern auch den Satan verehre. "Hexen, die Kindern nachstellen – diese Gedanken sind nicht neu. Die Verschwörungsmythen greifen eindeutig Elemente der frühen Hexenlehre auf, nämlich dass Teufelsanbeter Kinder verführen, töten und fressen", sagt Dillinger. "Es sind alte, hartnäckige Diskurse, die immer wiederkommen und immer wieder geglaubt werden."
Parallelen zwischen gestern und heute finden sich auch in der Person der Beschuldigten: Zwar gingen die Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit durch alle Schichten hindurch, überproportional betroffen war allerdings die Oberschicht, darunter Geldverleiher oder Beamte. Heute sind es die Eliten, das Establishment aus Politik und Medien, die angeblich wie die Hexen mit dem Teufel im Bunde stehen.
Hexenprozesse waren weltliche Prozesse
Die Hexenverfolgung in Mitteleuropa begann um 1560. Es war ein Flächenbrand, bei dem jeder unter Verdacht geraten konnte. "Die Anklagen gingen nicht, wie oft geglaubt, von der katholischen Kirche aus, sondern meistens vom einfachen Volk, dem Bauernstand. Hexenprozesse waren fast immer weltliche Prozesse", so Dillinger. Opfer der Verfolgungen waren zu etwa 80 Prozent Frauen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, ein ganz wesentlicher Grund erklärt sich allerdings durch die weibliche Arbeitssphäre: Frauen waren für die Versorgung von Kindern und Kranken zuständig. In ihrer Verantwortung lagen Heilung und Pflege und damit Leben oder Tod – die weibliche Magie war somit weit gefährlicher als die männliche. Korrigiert werden muss auch das Bild von der "Kräuterhexe": Die Vorstellung, dass die Opfer der Hexenprozesse professionelle Heilerinnen mit pharmazeutischen Spezialkenntnissen waren, ist genauso falsch wie das Klischeebild von der alten, buckligen Märchenhexe.
Neueren Erklärungsversuchen zufolge trug ein klimatisches Phänomen dazu bei, den Boden für Misstrauen, Verdächtigungen und Anschuldigungen zu bereiten. Die Hauptzeit der Hexenverfolgung zwischen 1560 und 1650 fällt mit der kältesten Phase der Kleinen Eiszeit zusammen. Die Klimaverschlechterung führte zu schweren Ernteverlusten und Hungersnöten und in der Folge zu sozialen Spannungen. Gerade in Deutschland wurden Hexen vor allem als Wetterzauberinnen gesehen und schädigende Wetterereignisse konnten ihnen direkt zur Last gelegt werden.
Besseres Geschichtsverständnis und Aufklärung nötig
"Die Hexen, das konnten tatsächlich alle sein, die man schon mal als vermeintlich böse erlebt hatte. Hexerei unterstellte man anderen nicht. Man traute sie anderen zu." Dillinger zufolge wird hier eine populäre Dämonologie sichtbar, die bereitwillig ganz alltägliche Konflikte mithilfe der Hexenlehre deutete. Auch noch heute führt der Glaube an böse Magier und Schadenszauber zu Hexenjagd und Morden, besonders in Afrika und Saudi-Arabien. Offizielle Hinrichtungen vermeintlicher Hexen sind ebenso wie Lynchmorde selbst im 21. Jahrhundert dokumentiert. Ein besseres Verständnis der Geschichte und Aufklärung würde nach Einschätzung von Dillinger einen Beitrag leisten, Hexenverfolgungen ein für alle Mal zu einem Kapitel der Vergangenheit zu machen. Eine Aufgabe der Zivilgesellschaft sei es, sich als Grundhaltung Vertrauen anstelle von Misstrauen zu eigen zu machen.
Johannes Dillinger hat Geschichte, katholische Theologie und Pädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der University of East Anglia, Norwich studiert und anschließend an der Universität Trier promoviert. Nach einem Auslandsaufenthalt an der Georgetown University, Washington D.C. und am German Historical Institute, Washington D.C. kehrte er als Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an die Universität Trier zurück, wo er 2006 habilitiert wurde. Ein Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) führte ihn in den Jahren 2009 bis 2013 an die Universität Mainz. Seit 2007 lehrt Dillinger Neuere Geschichte an der Oxford Brookes University und seit 2013 ebenfalls Geschichte der Neuzeit und Landesgeschichte in Mainz und Oxford. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Bauernstandes, Magie und Hexenverfolgung, politische Kriminalität und Regionalgeschichte.