Gedächtnisforschung: Fruchtfliegen lernen ihre Körpergröße einmal für das ganze Leben

Drosophila melanogaster entwickelt stabiles Langzeitgedächtnis für Körpergröße und Reichweite durch Bewegungsparallaxe beim Gehen

07.08.2019

Um sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und zu überleben, müssen Tiere eine Vorstellung von ihrer eigenen Körpergröße entwickeln. Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zeigen, dass die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ein sehr stabiles Langzeitgedächtnis für die eigene Körpergröße und Reichweite der Gliedmaßen entwickelt, nachdem sie aus ihrer Verpuppung geschlüpft ist. Dieses Gedächtnis wird durch das visuelle Feedback beim Gehen erworben, ist aber in den ersten zwei Stunden nach einem entsprechenden Training noch stressanfällig und noch nicht fest verankert. "Wenn das Gedächtnis einmal gefestigt ist, scheint es nach unserer Beobachtung ein Leben lang erhalten zu bleiben", teilt Prof. Dr. Roland Strauss vom Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie der JGU mit. "Die Insekten haben sich für den Rest ihres Lebens geeicht." Etwas rätselhaft ist allerdings, dass der Zugriff auf das erworbene Wissen erst zwölf Stunden nach dem Training möglich ist. Was in der Zwischenzeit im Gehirn abläuft, ist noch ungeklärt.

Drosophila melanogaster dient den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Roland Strauss als Modell, um Prozesse der Erinnerung und Funktionen des Gedächtnisses zu studieren, wie sie teilweise auch beim Menschen bekannt sind. So wurde in früheren Studien gezeigt, dass das Kurzzeitgedächtnis von Fruchtfliegen altersbedingt nachlässt und dabei ein ähnliches Protein wie beim Menschen eine Rolle spielt.

In der neuen Untersuchung haben Tammo Krause und Laura Spindler das Körpergedächtnis von Drosophila erforscht. Fruchtfliegen sind Insekten, die eine vollständige Metamorphose durchmachen: Die Tiere durchleben drei Larvenstadien, in dieser Zeit wachsen sie. Dann erfolgt die Verpuppung, an deren Ende die Fruchtfliege schlüpft. Wegen des harten Außenskeletts kann sich die Körpergröße jetzt nicht mehr verändern, sie variiert allerdings, je nachdem wie die Nahrungsversorgung während der Larvenzeit war.

Bein-über-Kopf-Verhalten weist auf Kletterabsicht hin

"Wir wollten wissen, wie die Insekten das Wissen über ihre Körpergröße erwerben und sich daran auch später noch erinnern", erklären Tammo Krause und Laura Spindler. Sie beobachteten, wie die Insekten unter verschiedenen Bedingungen versuchen, einen kleinen Graben zu überwinden, der größer ist als ihre Schrittlänge. Drosophila zeigt in einem solchen Fall ein stereotypes Verhalten: Um den Kletterversuch einzuleiten, erfolgen zunächst Suchbewegungen mit den Vorderbeinen über den Kopf hinweg. Falls der Graben entschieden zu breit ist, ist dieses typische Verhalten nicht zu sehen – die Fliegen wenden sich dann einfach ab.

Wissen über die Körpergröße wird durch visuelles Feedback gelernt

Drosophila lernt, so zeigen die Ergebnisse, die Entfernung über den Graben hinweg und die Reichweite ihrer Beine einzuschätzen, indem sie die visuellen Informationen aus der Umgebung wie beispielsweise ein Streifenmuster mit ihrer Körpergröße verknüpft. Frisch geschlüpfte und im Dunkeln aufgezogene Fruchtfliegen überschätzen ihre Körpergröße und versuchen wesentlich häufiger, einen viel zu großen Graben zu überwinden, als Tiere, die bei normalem Tag-Nacht-Rhythmus aufgezogen wurden. Der Lernprozess erfolgt über die Bewegungsparallaxe, die Strukturen in der Umwelt beim Gehen auf der Netzhaut erzeugen. Dies bestätigt ein Experiment, bei dem die Bewegungsparallaxe während des Lernprozesses manipuliert und künstlich verringert wurde: Die Fliegen unterschätzten ihre Körpergröße und unternahmen weniger Kletterversuche.

"Wenn die Fruchtfliege aus ihrer Verpuppung schlüpft und sich im Raum bewegt, wird die Bewegung vom Auge erfasst und die Fliege kann sich praktisch eichen", erläutert Strauss. "Wenn diese Eichung einmal erfolgt ist, bleibt das Wissen für den Rest des Lebens erhalten." Dies zeigte ein weiterer Versuch, bei dem die Fruchtfliegen nach drei Tagen unter normalen Lichtverhältnissen 21 Tage im Dunkeln verbringen mussten – und nach dieser langen Zeit trotzdem die gleiche Anzahl von Kletterversuchen unternahmen wie drei Tage alte Fliegen. "Wir nehmen daher an, dass das Gedächtnis für die eigene Körpergröße das dauerhafteste Gedächtnis ist, das bisher für Drosophila beschrieben wurde", heißt es in einem Beitrag der beiden Erstautoren Tammo Krause und Laura Spindler für das Fachmagazin Current Biology.

Körpergedächtnis erst nach zwölf Stunden verfügbar

Die Neurobiologen entdeckten weitere Mechanismen, die neue Fragen aufwerfen. Die Konsolidierung des Gedächtnisses ist in den ersten zwei Stunden nach dem Training noch stressanfällig. Das heißt, durch Stress kann es in dieser Zeit wieder gelöscht werden. Ist das Gelernte aber erst einmal verankert, können die Fruchtfliegen zwölf Stunden nach Trainingsende für immer darauf zugreifen. Was passiert in der Zwischenzeit? Wie erfolgt die dauerhafte Verankerung des Gelernten im Gehirn? "Uns interessieren die epigenetischen Bedingungen, die zu einem langlebigen Gedächtnis führen. Daran werden wir weiter arbeiten", kündigt Prof. Dr. Roland Strauss an.