Ergebnisse der NA62-Kollaboration ebnen den Weg für die Suche nach neuer Physik
25.08.2020
Es gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Um das Standardmodell der Teilchenphysik auf den Prüfstand zu stellen, nehmen Physikerinnen und Physiker extrem seltene Zerfallsprozesse bestimmter Teilchen unter die Lupe. So wollen sie herausfinden, ob es Unterschiede zwischen ihren Messungen und den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells gibt.
Das NA62-Experiment am CERN soll mit hoher Präzision einen solchen Prozess beobachten, bei dem sich ein positiv geladenes Teilchen, das Kaon, in ein positiv geladenes Pion und ein Neutrino-Antineutrino-Paar verwandelt (𝐾+ → 𝜋+𝜈𝜈̅). Auf der "40th International Conference on High Energy Physics" berichtete CERN-Forscher Radoslav Marchevski, der diesen Zerfall bereits als NA62-Doktorand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) untersucht hat, jetzt über 17 Kandidaten für diesen extrem seltenen Prozess, die sich aus den jüngsten NA62-Daten des Jahres 2018 ergeben. Zusammen mit den Daten der Jahre 2017 und 2016 hat die NA62-Kollaboration diesen ultra-seltenen Prozess damit erstmals mit einer statistischen Signifikanz von 3,5σ nachgewiesen.
Einer der seltensten Prozesse, die beobachtet werden können
Der NA62-Detektor bezieht seinen Teilchenstrahl vom Super-Protonen-Synchrotron (SPS) am CERN. Hier prallen Protonenstrahlen mit einer Energie von 400 Gigaelektronenvolt auf ein festes Target aus Beryllium. Dabei entstehen in jeder Sekunde fast eine Milliarde Sekundärteilchen, die auf den Detektor zufliegen. Von diesen Teilchen sind etwa 6 Prozent positiv geladene Kaonen. In dem Detektor werden sie von einer speziellen Vorrichtung identifiziert, bevor sie in leichtere Teilchen zerfallen. "Die Kunst ist, zunächst die erzeugten Kaonen zu zählen, um dann feststellen, welche von ihnen sich in ein Pion und ein Neutrino-Antineutrino-Paar umgewandelt haben", erläutert Dr. Rainer Wanke, Physiker am Exzellenzcluster PRISMA+ und Leiter der Mainzer NA62-Beteiligung am CERN, die Herausforderung. Das Standardmodell der Teilchenphysik sagt voraus, dass nur knapp eines von zehn Milliarden Kaonen diesen speziellen Zerfallsprozess durchläuft. Es handelt sich somit um einen der seltensten Prozesse, die von Physikern beobachtet werden können, und damit um einen der faszinierendsten.
Im Jahr 2018 sammelte der NA62-Detektor 217 Tage lang Daten. Aus ihnen ließen sich die 17 neuen Ereignisse identifizieren, die zum Profil des gesuchten Kaon-Zerfalls passen. In den Daten aus 2016 und 2017 wurden zuvor drei solcher potentiellen Zerfälle beobachtet. "Im Ergebnis beträgt die Rate, mit der Kaonen diese seltene Transformation durchlaufen, bei Kombination aller bisherigen Daten etwas mehr als eins zu zehn Milliarden, mit einer Unsicherheit von allerdings noch 35 Prozent", so Rainer Wanke. "Der experimentelle Wert ist deshalb mit der gegenwärtigen Präzision mit der Vorhersage des Standardmodells vereinbar."
Das nächste Ziel ist nun die Signifikanz von 3,5σ auf 5σ zu erhöhen, wenn das SPS am CERN im Jahr 2021 seinen Betrieb wieder aufnimmt. "Die Standardabweichung σ ist dabei ein Maß dafür, wie sicher es sich tatsächlich um den gesuchten Prozess handelt", erläutert Rainer Wanke. "Ab einer Schwelle von 5σ würden wir tatsächlich davon sprechen, dass wir diesen neuen Prozess sicher entdeckt haben." In einem nächsten Schritt wäre dann erneut zu untersuchen, ob in einem noch größeren Datensatz auch eine signifikante Abweichung vom Standardmodell vorliegt. "Das wäre unser Traum!"
Die NA62-Kollaboration besteht aus etwa 140 Wissenschaftlern aus 13 europäischen und nordamerikanischen Ländern. Aus Deutschland ist eine Gruppe des Exzellenzclusters PRISMA+ der JGU beteiligt, die für das Myonvetosystem des Detektors verantwortlich zeichnet. Dieses soll Pionen, die bei dem zu untersuchenden Zerfall entstehen, von Myonen unterscheiden, die sehr häufig bei Kaonzerfällen auftreten Es wurde in sechsjähriger Bauzeit in Mainz entwickelt und aufgebaut und 2015 mit einem Schwertransporter zum CERN in Genf gebracht. Mit einer Grundfläche von drei mal drei Metern und bei einer Höhe von einem Meter beträgt das Gewicht des Mainzer Detektors 40 Tonnen.
Der Teilchendetektor und die Beteiligung der Mainzer Wissenschaftler am NA62-Experiment wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell gefördert und von PRISMA+ unterstützt.