Technische Meisterleistung mit hohem Potenzial für Wissenschaftsstandort Rheinland-Pfalz
05.10.2007
Weltweit einmalige Anlage zur Beschleunigung von Elektronen: Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme Ende Dezember 2006 läuft die dritte Ausbaustufe des Mainzer Mikrotrons, MAMI C, im Institut für Kernphysik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) im routinemäßigen Experimentierbetrieb. Anlässlich der Einweihung dieser völlig neuen und komplexen Anlage sprach Doris Ahnen, Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur, von einer technischen Meisterleistung mit hohem Potenzial für den Wissenschaftsstandort Rheinland-Pfalz. "In sechsjähriger Bauzeit wurde ein Hallen füllender und technisch außerordentlich anspruchsvoller Beschleuniger aufgebaut und im Dezember 2006 zum erstmalig in Betrieb genommen. Alle an diesem Werk Beteiligten haben so präzise gearbeitet, dass nach einem nur zweiwöchigen Testbetrieb bereits die Experimente starten konnten", bilanzierte Ahnen.
Es gebe weltweit nur wenige Forschungseinrichtungen, die einen Beschleuniger dieser Größenordnung innerhalb einer Universität entwickeln, technisch umsetzen, betreiben und ein experimentelles Programm für zahlreiche internationale Gruppen managen. Üblicherweise werde ein solch anspruchsvolles Großgerät in einer außeruniversitären Einrichtung gebaut und von einer größeren Betreibergruppe betreut. "Den Vorteil einer universitären Lösung sehe ich vor allem in der engen Einbindung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den Aufbau und den Betrieb einer solchen Anlage", so die Ministerin.
An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wird bereits seit Ende der 1970er-Jahre eine Beschleunigeranlage zur Erzeugung eines kontinuierlichen Elektronenstrahls, realisiert als Kaskade von sogenannten Rennbahn-Mikrotronen, betrieben. Anfang der 1990er-Jahre kam als weitere Stufe das weltweit größte Rennbahn-Mikrotron hinzu. "Dessen hervorragende Strahlqualität erlaubte die Durchführung von Experimenten, die die Mainzer Kern- und Teilchenforschung an die Weltspitze brachte", erklärt der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Prof. Dr. Georg Krausch. "Die internationale Positionierung unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf diesem Gebiet ist unumstritten. Die Kern- und Teilchenphysik gehört zu den ausgewiesenen Forschungsschwerpunkten unserer Universität."
Die Experimente lieferten vor allem Grundlagenwissen über den Aufbau unserer Materie, besonders der Protonen und Neutronen. Zu den Höhepunkten der MAMI-Forschungen gehören neue Aussagen über die Ladungsverteilung in Neutronen und Untersuchungen über Pionen, leichte Teilchen, die aus einem Quark und einem Antiquark aufgebaut sind. Mit der neuen Beschleunigerstufe, MAMI C, können künftig noch ganz andere Teilchen erforscht werden, vor allem die schwereren Mesonen und die Hyperonen, die ein sogenanntes Strange Quark enthalten und mit der bisher in Mainz zur Verfügung stehenden Elektronenenergie nicht erzeugt werden konnten. Davon erwarten sich die Forscherinnen und Forscher neue Erkenntnisse über den Aufbau der Nukleonen, den Bausteinen des Atomkerns, und die darin wirksamen fundamentalen Kräfte.
Das Institut für Kernphysik der JGU hat im Februar 2007 mit dem routinemäßigen Experimentierbetrieb der neuen Beschleunigerstufe des Mainzer Mikrotrons begonnen. Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme Ende Dezember 2006 konnte somit schnell vom Testbetrieb mit nur geringer Strahlleistung zum Experimentierbetrieb mit derzeit bis zu 60 Mikroampere Strahlstrom bei einer Energie von 1.500 Megaelektronenvolt, entsprechend 90 kW Leistung, in einem haarfeinen Elektronenstrahl übergegangen werden. "Dass nach nur wenigen Tagen Testbetrieb diese komplexe Anlage mit hoher Leistung rund um die Uhr für kernphysikalische Messungen zur Verfügung steht, zeigt, dass wir in den letzten Jahren bei Planung und Aufbau dieser Anlage gute Arbeit geleistet haben", sagt Dr. Andreas Jankowiak, Betriebsleiter des Elektronenbeschleunigers MAMI. "Mit diesem weltweit einmaligen Beschleuniger steht uns nun ein hochenergetischer Strahl für völlig neue Experimente in der Kern- und Teilchenphysik zur Verfügung", führt Prof. Dr. Hans-Jürgen Arends, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kernphysik, aus.
In sechsjähriger Bauzeit wurde in Mainz der bestehende Elektronenbeschleuniger für rund 12,5 Millionen Euro mit einer vierten Stufe versehen und damit die Energie des Teilchenstrahls von 855 auf 1.500 Megaelektronenvolt (MeV) nahezu verdoppelt. Die Konstruktion ist so angelegt, dass die bislang außerordentlich hochwertige Strahlqualität erhalten bleibt. Damit können die Kernphysiker, die für ihre Forschungen aus aller Welt ans Mainzer Mikrotron kommen, noch tiefer ins Innere der Materie blicken.
Um eine Energie von 1.500 Megaelektronenvolt (MeV) zu erreichen, wird der Elektronenstrahl zunächst durch die alte Anlage, deren drei Stufen jeweils aus zwei Dipolmagneten und einem Linearbeschleuniger bestehen, auf 855 MeV gebracht. Indem der Strahl durch wiederholte Ablenkung mithilfe der Magneten immer wieder durch die gleiche Linearbeschleunigerstruktur geführt wird, gewinnen die Elektronen beständig an Energie. Mit den erreichten 855 MeV tritt der Strahl dann in die neue Anlage, ein harmonisches doppelseitiges Mikrotron (HDSM), ein. Dieses einmalige Konzept basiert auf Entwicklungsarbeiten der Beschleunigergruppe des Instituts für Kernphysik unter der damaligen Leitung von Dr. Karl-Heinz Kaiser, bei der vier Magnete, jeweils 250 Tonnen schwer, den Strahl ablenken und zwei Linearbeschleuniger mit verschiedenen Frequenzen elektrische Felder erzeugen, durch die der Strahl seine Energie gewinnt. "Wir arbeiten hier mit der Standardfrequenz von 2,45 Gigahertz, das entspricht der Frequenz einer haushaltsüblichen Mikrowelle. Zusätzlich haben wir den weltweit ersten 4,90-Gigahertz-Beschleuniger hier entwickelt und eingebaut", erläutert Jankowiak. Auf seinem Weg durch die kleinen Kupfer- und Aluminiumröhrchen erreicht der Strahl schon nach wenigen Metern nahezu Lichtgeschwindigkeit und gewinnt anschließend durch die weitere Energiezufuhr an Masse. Ist das Ziel erreicht, haben die Elektronen ungefähr sieben Kilometer zurückgelegt.
"Wir haben eine fantastische Strahlqualität: Alle Elektronen haben am Ziel nahezu die gleiche Energie und sind in einem feinen Strahl von nur einigen zehntel Millimetern Durchmesser gebündelt", erklärt Arends. "Das ist eine wichtige Voraussetzung für Präzisionsexperimente." In diesem Energiebereich von 1.500 MeV ist MAMI C die Referenzanlage weltweit und in den kommenden Jahren wird diese in- und ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für neue, spannende Experimente in der Kern- und Teilchenphysik für 6.500 Stunden im Jahr zur Verfügung stehen.