Historisch-genetische Studie geht Spekulationen über Kampfstoff-Rückstände des Zweiten Weltkriegs nach
17.02.2004
Über 50 Jahre lang wussten die Bewohner der Kleinstadt Espelkamp nicht, ob unter ihren Häusern oder in ihren Gärten vielleicht unerkannte Gefahren lauern – Gefahren durch Rüstungsaltlasten des Zweiten Weltkriegs. Denn Espelkamp entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsanstalt des Heeres, der ein Lager und eine Füllstelle für Kampfstoffe angegliedert waren. "Noch bis vor einem Jahr gab es zwei Meinungen in Espelkamp bezüglich der Kampfstoffe", sagt Prof. Dr. Johannes Preuß vom Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Es habe "nie etwas gegeben", sagten die einen. Andere waren sicher, dass eine Kampfstoffanlage betrieben wurde und jetzt noch giftige Munition im Boden lagert.
Johannes Preuß und sein Mitarbeiter Frank Eitelberg haben Licht in die von Gerüchten, Geheimnissen und Mythologien umrankte Geschichte der jungen Stadt gebracht: "Heeresmunitionsanstalt Lübbecke. Vorgeschichte der Stadt Espelkamp" heißt das Buch, in dem die Experten für Rüstungsaltlasten detailliert die Funktion der Einrichtung während des Krieges und ihr anschließendes Schicksal rekonstruieren. "Die große Zahl der in Espelkamp angesiedelten Menschen hätte schon seit längerem eine eingehende historisch-genetische Studie erforderlich gemacht, zumal die Widersprüche der Zeitzeugenaussagen und Dokumente bekannt waren", so die Autoren. Fast 28.000 Menschen leben heute in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt, die nach dem Krieg auf dem ehemaligen Muna-Gelände entstanden ist und vor allem Flüchtlingen aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudentenland zur neuen Heimat wurde.
Espelkamp gehörte zu den insgesamt sieben Munitionsanstalten im Deutschen Reich mit einer Füllanlage für Kampfstoffe. Früher als Giftgas bezeichnet, handelt es sich bei diesen chemischen Waffen nur selten wie im Falle von Phosgen und Chlor tatsächlich um Gase, sondern meist um flüssige oder feste Substanzen. Ihre toxische Wirkung besteht darin, Haut, Atemwege, Lungen, Blut oder Nerven zu schädigen. "Tabun" etwa, ab 1942 industriell hergestellt, greift Rückenmark und Nerven an und führt bei schweren Vergiftungen zu Atemstillstand. Nach vorläufigen Erhebungen betrug die Kampf- und Reizstoffproduktion im Deutschen Reich zwischen 1938 und 1945 etwa 72.000 Tonnen. In den Füllstellen des Heeres wurden damit Granaten und Kampfstoffminen, sogenannte Sprühbüchsen, befüllt.
Der Auftrag zum Bau einer Kampfstoff-Füllstelle in der Heeresmunitionsanstalt (HMa) Lübbecke erging im Sommer 1940. Anfang 1944 war die Anlage voll betriebsbereit. Die Aussagen der Zeitzeugen und die Quellen zeigen, dass die Füllstelle im Rahmen eines Probelaufes betrieben wurde, den regulären Betrieb jedoch nicht aufnahm. Offen bleibt, ob der Probebetrieb mit Kampfstoffen erfolgt ist. "In jedem Falle", so heißt es in der Studie, "ist bis heute wenig über Vorgänge in der HMa Lübbecke bekannt geworden." Es sei zu fragen, ob Zeitzeugen nicht schon am Ende des Krieges und bis heute eine "Mauer des Schweigens" aufgebaut hätten.
Sicher ist allerdings, dass gegen Ende des Krieges gut 10.700 Tonnen kampfstoffhaltiger Munition in Espelkamp lagerten – auch wenn viele Bürger dies nicht wahrhaben wollen. Die Munition stand im März 1945 zur Räumung durch die Wehrmacht bereit, um nicht in die Hände des Feindes zu fallen. Mindestens drei Züge dieser "Spitzenkampfstoffe" wurden nach Nordenham verbracht, ein Zug mit etwa 23.000 Tabungranaten blieb vor der HMa Lübbecke stehen. Als die alliierten Truppen bei ihrem Vormarsch im April 1945 in der Munitionsanstalt eintrafen, fanden sie dort unter anderem diese Grünring-III-Granaten mit Tabunfüllung vor. Dies war eine der großen Entdeckungen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, denn vor der Besetzung der HMa Lübbecke war noch keine deutsche Kampfstoffmunition gefunden worden. Im März 1946 wurden diese damals modernsten Kampfstoffe zusammen mit einer großen Menge anderer Kampfstoffmunition mit dem Frachter "Karl Leonhardt" im Skagerrak versenkt. Hier ruhen sie mit etwa 130.000 Tonnen sonstiger Kampfstoffmunition in über 50 weiteren Schiffen. Ein Rest nicht transportfähiger Munition wurde in der Nähe der HMa Lübbecke gesprengt. Von den Briten vergrabene Munition wurde in den 1950er-Jahren geborgen und vernichtet.
Eitelberg und Preuß, der mit seiner Arbeitsgruppe bereits über 40 Rüstungsaltstandorte untersucht hat, zeigen in ihrer Studie, dass zahlreiche Flächen im Hinblick auf eine Kontamination auffällig sind. Nach einer ersten Untersuchungsrunde ist nun klar, dass weder im Kampfstoff-Lagergebäude noch in dem Abfüllgebäude Kampfstoffe oder deren Abbauprodukte nachweisbar sind.
Das Buch beschränkt sich jedoch nicht auf die Aufarbeitung der lokalen Situation, sondern es beschreibt grundsätzliche Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Produktion und Verarbeitung von Kampfstoffen im Zweiten Weltkrieg. So werden Kampfstoff-Füllstellen mit Grundrissbildern gezeigt und die Arbeitsabläufe dargestellt. Andere Kapitel widmen sich den Aufgaben von Munitionsanstalten und der Organisation des Munitionswesen oder der Verwaltungs- und der Baustruktur von Heeresmunitionsanstalten. Das Buch zeigt aber auch die ungeheuere Aufbauarbeit, die in Espelkamp nach dem Krieg geleistet wurde, so Preuß.