Schriftgut von 34 ehemaligen kleinen und mittleren Reichsstädten wird erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht – Regesten als Grundlage für intensive Forschungsarbeit
21.05.2025
Wenn von den Reichsstädten im Mittelalter die Rede ist, denkt man meistens an Aachen, Frankfurt oder Nürnberg. Aber außer diesen großen Reichsstädten waren auch viele kleinere Städte wie Rothenburg ob der Tauber, Heilbronn oder Isny reichsunmittelbar – also hatten die Unabhängigkeit von einem Landesherrn gewonnen und unterstanden direkt dem König. Doch während die Forschungslage bei den großen Reichsstädten weit fortgeschritten ist, sind die kleinen und mittleren Reichsstädte in vieler Hinsicht auch heute noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. "Seit dem Ende des Mittelalters sind Jahrhunderte vergangen, aber noch immer ist eine intensive Erforschung der kleineren und mittleren Reichsstädte nur sehr schwer möglich", sagt Prof. Dr. Jörg Rogge vom Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Grund dafür ist die lückenhafte Erschließung der Quellen in den Archiven – insbesondere der umfangreichen Schriftstücke aus dem 15. Jahrhundert.
Unter der Leitung von Jörg Rogge und Prof. Dr. Steffen Krieb, ebenfalls Historiker an der JGU und an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, befasst sich ein neues Projekt mit diesem Thema. Das Vorhaben "Regesta Civitatum Imperialium – Regesten als Grundlage der Erforschung der kleinen und mittleren südwestdeutschen Reichsstädte im Spätmittelalter (bis 1521)" wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Langzeitprojekt neun Jahre lang gefördert. Für die erste dreijährige Periode steht rund eine Million Euro zur Verfügung. Das Projekt wird das Schriftgut aus 34 Archiven ehemaliger kleiner und mittlerer Reichsstädte in den heutigen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg erschließen, um ihre Rolle und Funktion in der Reichsverfassung, ihre Netzwerke, Kommunikations- und Bündnissysteme, ihre Praktiken der Konfliktbewältigung und ihre Bemühungen um den Erhalt und die Sicherung ihres Status als Reichsstädte zu erforschen. Die Arbeiten wurden am 1. April 2025 aufgenommen.
Überlieferungen werden erfasst und online in einer Datenbank zur Verfügung gestellt
Die Reichsstädte sind in der Mittelalterforschung seit Langem ein herausragendes Thema. Diese Städte hatten sich eine weitgehende Unabhängigkeit von königlicher Herrschaft gesichert und besaßen umfangreiche Rechte und Privilegien, wie etwa eine kommunale Selbstverwaltung und eine eigene Gerichtsbarkeit. Auch Freie Städte wie Köln oder Mainz konnten sich auf vergleichbare Weise von ihren Bischöfen als Stadtherren befreien. Bislang konzentrierte sich das Augenmerk der Forschung vorwiegend auf diese großen Reichsstädte und Freien Städte mit über 10.000 Einwohnern, vor allem weil die Überlieferungen für diese Städte viel besser erschlossen sind.
Das Defizit bei den kleinen und mittleren Reichsstädten mit weniger als 10.000 Einwohnern soll nun im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts angegangen werden. "Wir haben 34 Städte im Südwesten des damaligen Heiligen Römischen Reichs ausgewählt und werden die wichtigen Überlieferungen aus den lokalen Archiven und den Landesarchiven aufarbeiten", so Jörg Rogge. Dabei werden Dokumente wie beispielsweise Urkunden, Briefe, Gerichtsbeschlüsse oder auch Ratsprotokolle zunächst in sogenannten Regesten zusammengefasst. Dazu lehnen sich die Historiker an das Projekt "Regesta Imperii" der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz an. Hier sind die Dokumente von Königen und Päpsten des Mittelalters, die als Regesten gesammelt und geordnet wurden, in digitaler Form für die Öffentlichkeit frei zugänglich. "Wir können die etablierte und leistungsfähige digitale Infrastruktur des Akademieprojekts nutzen und so auch unsere Regesten der kleineren Städte innerhalb der Mittelalterforschung sichtbar machen", sagt Steffen Krieb. Allerdings wird das Schriftgut völlig anders erhoben. "Wir drehen die Perspektive um und werden nicht die Sicht der Herrschenden auf die Städte dokumentieren, sondern sozusagen mit dem Blick von unten die Überlieferungen der kleinen und mittleren Städte erfassen", so Krieb.
Hier liegt auch eine Schwierigkeit. Auf der Suche nach kommunalen Überlieferungen muss oft gezielt vor Ort geschaut werden: Ist überhaupt ein Archiv vorhanden? Wurden Dokumente an größere Archive abgegeben? Rogge dazu: "Manchmal verfügen die Städte über ein Archiv, aber teilweise sind sie nicht gut organisiert oder nur schwer zugänglich. Wir müssen hinfahren und sehen, was wir tatsächlich vorfinden und was wir erfassen können." Die Ergebnisse werden dann online in eine Datenbank eingefügt und der Forschung sowie der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
Basis für Forschungen zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Städte
Die Verantwortlichen versprechen sich von der Aufarbeitung der Überlieferungen, dass gerade die Phase der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der kleinen Städte im 15. Jahrhundert intensiver erforscht werden kann. Selbst die Geschichte relativ gut erforschter kleiner Reichsstädte weist für das 15. Jahrhundert, als die Schriftlichkeit einen enormen Schub verzeichnete, eine Lücke auf. Offene Fragen sind unter anderem, ob die kleinen Reichsstädte tatsächlich so passiv waren wie oft behauptet, welche Formen der Zusammenarbeit es gab, welchen Austausch in der Wirtschaft und welche gegenseitige Hilfe bei der Verfolgung von Straftaten. Aber auch Einblicke in das Alltagsleben der Menschen in den kleinen Reichsstädten sind zu erwarten. "Wir schaffen eine solide Quellenlage, mit deren Hilfe die Rolle dieser Städte für das Reich und die Rolle des Reichs für die Städte im späten Mittelalter besser zu verstehen ist", fasst Rogge zusammen.