In Nature vorgestelltes Prinzip der Selbst-Aggregation birgt großes Potenzial für Nanotechnologie und technologische Anwendungen
04.11.2013
Zellen von Pflanzen und Tieren sind ein prominentes Beispiel dafür, wie die Natur – ausgehend von molekularen Strukturen des Erbguts – in einer zielgerichteten, vorprogrammierten Weise immer größere Einheiten aufbaut. Die Nanotechnologie versucht dieses Bottom-up-Prinzip zu kopieren, indem sie die Fähigkeit von Nanopartikeln zur selbstständigen Strukturbildung nutzt. Daran anknüpfend stellen Polymerwissenschaftler aus Bayreuth, Aachen, Jena, Mainz und dem finnischen Helsinki jetzt in Nature ein neuartiges Prinzip der Selbst-Aggregation vor, das sich künftig als sehr vorteilhaft sowohl für die weitere Erforschung dieser Prozesse als auch für technologische Anwendungen erweisen könnte.
Die Forschergruppe wurde von Polymerchemiker Prof. Dr. Axel Müller geleitet, der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 den Lehrstuhl für Makromolekulare Chemie II an der Universität Bayreuth innehatte und jetzt als Fellow des Gutenberg Forschungskollegs (GFK) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) tätig ist. Außerdem waren an den durch den Sonderforschungsbereich 840 "Von partikulären Nanosystemen zur Mesotechnologie" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Bayreuth geförderten Forschungsarbeiten Dr. André Gröschel, früher Universität Bayreuth, jetzt Aalto University Helsinki, Tina Löbling und Dr. Holger Schmalz vom Lehrstuhl für Makromolekulare Chemie II der Universität Bayreuth, Dr. Andreas Walther vom DWI - Interactive Materials Research an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen, und Juniorprof. Dr. Felix Schacher vom Institut für Organische Chemie und Makromolekulare Chemie der Friedrich-Schiller-Universität Jena beteiligt.
Ausgangspunkt für das in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Prinzip der Selbst-Aggregation sind kettenartige Makromoleküle mit einer Größe zwischen 10 und 20 Nanometern. Es handelt sich um sog. Triblock-Terpolymere, die aus drei linearen, kettenartig miteinander verbundenen Abschnitten oder Blöcken bestehen. Sie werden durch ein spezielles Syntheseverfahren, die sog. lebende Polymerisation, hergestellt und sind für die Forschung leicht zugänglich. Die Forschergruppe um Prof. Dr. Axel Müller konnte die dreiteiligen Makromoleküle nun dazu veranlassen, sich zu weichen Nanopartikeln mit einem Durchmesser von rund 50 Nanometern zusammenzuschließen. Bei dieser Selbst-Aggregation der Makromoleküle spielten Lösungsmittel eine wesentliche Rolle. Diese wurden so zielgenau ausgewählt und eingesetzt, dass die unterschiedliche Löslichkeit der drei Blöcke und die Unverträglichkeit von Polymeren untereinander entscheidend zur Entstehung der gewünschten inneren Struktur der Nanopartikel beigetragen haben.
Die Wissenschaftler haben dieses Verfahren auf zwei Sorten von Triblock-Terpolymeren angewendet. Deren Unterschied liegt in der chemischen Beschaffenheit der mittleren Blöcke: Die einen Makromoleküle haben die Struktur A–B–C, die anderen die Struktur A–D–C. Erstere bilden Nanopartikel mit nur einer Bindungsstelle und tendieren dazu, sich zu kugelartigen Überstrukturen zusammenfinden; letztere bilden Nanopartikel mit zwei Bindungsstellen und sind dementsprechend geneigt, sich in kettenartigen Überstrukturen zu organisieren. Entscheidend ist dabei, dass in beiden Fällen die Struktur der Nanopartikel durch die Synthese der zugrunde liegenden Makromoleküle vorprogrammiert ist, ähnlich wie die Struktur eines Proteins durch die Abfolge der Aminosäuren vorherbestimmt wird.
Mit den Nanopartikeln ist der Prozess der Selbst-Aggregation aber noch nicht beendet. Würde man die aus den Makromolekülen entstandenen Nanopartikel voneinander getrennt halten und sich selbst überlassen, entstünden tatsächlich einerseits kugelartige, andererseits kettenartige Überstrukturen. Doch die Gruppe um Prof. Dr. Axel Müller hat stattdessen eine andere Forschungsidee entwickelt und umgesetzt: Die unterschiedlich strukturierten Nanopartikel wurden so gemischt, dass sie gemeinsam – in einem Prozess der Co-Aggregation – eine völlig neue Überstruktur bilden. Darin wechseln Nanopartikel, die aus Molekülen mit der Struktur A–B–C hervorgegangen sind, und Nanopartikel, die sich aus Molekülen mit der Struktur A–D–C gebildet haben, in einer exakt definierten Weise einander ab.
Die so entstandene übergeordnete Struktur hat, wenn sie mit dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht wird, starke Ähnlichkeit mit einer farbenprächtigen Schmetterlingsraupe. Denn diese besteht gleichfalls aus klar voneinander abgegrenzten, regelmäßig aufeinanderfolgenden Abschnitten. Die Forschergruppe um Müller hat deshalb für diese durch Co-Aggregation gebildete Großstruktur den Begriff "Raupenmizelle" geprägt.
Die jetzt in Nature veröffentlichten Forschungsergebnisse sind ein Meilenstein auf dem Weg zu neuartigen hierarchischen Strukturen, die aus programmierten Prozessen der Selbst-Aggregation hervorgehen. Sie markieren insofern einen Paradigmenwechsel, da sich die bisherige Forschung oft auf Verfahren der Strukturierung konzentriert hat, die auf dem Top-down-Prinzip beruhen, also dem Herausarbeiten einer Mikrostruktur aus einem größeren Komplex. "Dieses Prinzip stößt in absehbarer Zukunft an seine Auflösungsgrenzen", erklärt Müller. "Komplexe Strukturen im Nanometer-Bereich sind nur in den seltensten Fällen realisierbar." Das an der Natur orientierte Bottom-up-Prinzip, das die Fähigkeiten zur Selbst-Aggregation nutzt, eröffnet hingegen weitreichende Zukunftsperspektiven. Besonders attraktiv ist dabei die Vielzahl der Makromoleküle, die als Grundbausteine infrage kommen. Sie können dazu dienen, bestimmte Funktionalitäten gezielt in die angestrebten Großstrukturen einzuschleusen, wie beispielsweise die Sensibilität für Einflüsse aus der Umgebung wie Temperatur, Licht, elektrische und magnetische Felder, etc. oder die Schaltbarkeit. Denkbare Anwendungen wären die Nanolithographie oder die zeitlich und lokal vorprogrammierte Medikamentenfreisetzung. Auch hier zeigt sich wieder die Analogie zum Bauprinzip der Tier- und Pflanzenzellen, in denen unterschiedliche Funktionen in räumlich abgegrenzten Bereichen untergebracht sind.
Makromoleküle, die der Polymerforschung als Träger bestimmter Funktionalitäten zur Verfügung stehen, können hundertmal kleiner als ein Mikrometer sein. Dementsprechend hoch ist die Feinheit von übergeordneten Strukturen, die letztlich aus ihnen hervorgehen. "Zukünftige Technologien wie etwa maßgeschneiderte künstliche Zellen, Transistoren oder Elemente für die Mikro-/Nano-Robotik können von dieser geringen Auflösungsgrenze erheblich profitieren", so Müller. "Für unsere jetzt vorgestellten Forschungsergebnisse zeichnen sich derzeit zwar noch keine sofortigen Anwendungen ab. Aber je besser wir die Bottom-up-Prozesse verstehen lernen, die von Molekülen im Nanometerbereich zu höheren Hierarchieebenen im Mikrometerbereich führen, desto greifbarer werden darauf basierende neue Technologien." Die Raupenmizellen sind auch keineswegs die einzigen Großstrukturen, die sich aus den durch Selbst-Aggregation gebildeten Nanopartikeln herstellen lassen. "Diese weichen Nanopartikel können beispielsweise auch mit anorganischen oder biologischen Nano- und Mikropartikeln kombiniert werden, sodass bisher unbekannte Funktionsmaterialien entstehen. Die Kombinationsmöglichkeiten sind schier endlos", prognostiziert Müller.