Deutsch-ägyptisches Forschungsprojekt hat in 16-jähriger Arbeit Bedeutung Assiuts für Geschichte Ägyptens wieder ins Bewusstsein gerückt
05.02.2020
Vor rund 4.000 Jahren war Assiut ein bedeutendes kulturelles Zentrum in Mittelägypten. Die antike Stadt mit ihren Tempeln, Palästen, Bibliotheken und Wohnhäusern ist unter den Ablagerungen der Nilüberschwemmungen und moderner Überbauung verschwunden, weshalb sie unter den Sehenswürdigkeiten nie den Rang von Theben oder Luxor erreichte. Im Gegenteil: Bis vor Kurzem war nur wenig über die Geschichte Assiuts bekannt und die moderne Großstadt genoss im Land kein hohes Ansehen. Doch das Bild verändert sich, seitdem ein deutsch-ägyptisches Kooperationsprojekt den Gräberberg Assiut al-gharbi im Westen der Stadt eingehend erforscht hat. Die 16-jährigen Arbeiten eröffnen einen Einblick in monumentale Fürstengräber, Schachtanlagen, vielfältige Deckenmuster und farbenprächtige Wanddekorationen, endlose Inschriften und Grabbeigaben. "Die Funde erweitern unsere Kenntnisse über die Geschichte und Kunst einer Region, die in den Epochen der Ersten Zwischenzeit und des Mittleren Reichs einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung erlebte", sagt Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "Assiut spielt damit eine wichtige Rolle für das kulturelle Gedächtnis Ägyptens."
Gemeinsam mit Prof. Dr. Jochem Kahl von der Freien Universität Berlin hat Verhoeven-van Elsbergen das Projekt in enger Kooperation mit Kollegen der ägyptischen Universität Sohag geleitet. In 14 Feldkampagnen arbeitete das internationale und interdisziplinäre Team jeweils im Sommer zwei Monate lang auf dem Nekropolenberg, der 2003 zum ersten Mal nach 80 Jahren wieder für archäologische Arbeiten geöffnet wurde. Erste Dokumentationen über einzelne Gräber stammen von der Ägypten-Expedition unter Napoleon Bonaparte aus dem Jahr 1799. Nur wenig später brachten Steinbrucharbeiten Gräberdecken oder Eingänge zum Einsturz. Raubgrabungen und archäologische Unternehmungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert führten zur Plünderung des Berges, wertvolle Grabbeigaben gelangten meist ohne ausreichende Beschreibung des Fundkontextes in Museen in der ganzen Welt.
Das Projekt erstellte den ersten Nekropolenplan mit über 300 Einträgen
Die großen Fürstengräber des "westlichen Wüstenbergs von Assiut" entstanden in der Ersten Zwischenzeit und dem Mittleren Reich, also etwa 2200 bis 1900 v. Chr. Das 200 Meter hohe Kalksteinmassiv diente aber nicht nur Menschen der Pharaonenzeit als Friedhof, sondern auch Christen und Muslimen. Außerdem war es Bestattungsplatz für Tiere, antiker und frühneuzeitlicher Steinbruch, Ausflugsziel, Rückzugsort für Eremiten, Standort von koptischen Klöstern und schließlich Jahrzehnte lang militärisches Sperrgebiet.
Als der Zugang wieder möglich wurde, konnte die erste wissenschaftliche Erforschung des Berges beginnen, unterstützt durch eine Langzeitförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Von Anfang an arbeitete das Team daran, erstmals einen Nekropolenplan zu erstellen, der inzwischen über 300 Einträge von Grabanlagen und anderen Strukturen aufzeigt. Die Funddatenbank umfasst über 17.000 Einträge.
Ein unbekanntes Grab liefert zahlreiche neue Erkenntnisse
Aufgrund von Hinweisen eines lokalen Wächters entdeckte das Projekt 2005 ein bislang gänzlich unbekanntes Grab, das beinahe vollständig verschüttet war und das der Regionalfürst Iti-ibi(-iqer) etwa 2000 v.Chr. angelegt hatte. "Dieses Grab N13.1 entstand in einer Zeit des politischen Umbruchs und ist daher historisch wichtig, aber es hat auch gut erhaltene und ungewöhnliche Wanddekorationen", erklärt Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen, darunter den Grabherrn mit nahen Verwandten und göttlichen Wesen, Reihen von Soldaten sowie Szenen mit Handwerk, Viehzucht, Jagd, Musik und Tanz. Ein besonderer Schatz sind zudem 215 Tuschegraffiti, die 500 bis 900 Jahre später von Besuchern angebracht wurden: Sie enthalten lobende Erwähnungen der lokalen Tempel, Schreib- und Zeichenübungen und umfangreiche Auszüge von berühmten Lebenslehren, die bislang meist nur aus Theben überliefert waren. Der längste dieser Texte verläuft über mehrere Wände, misst 11 Meter und ermöglichte wichtige literaturgeschichtliche Erkenntnisse.
Die in den Besuchertexten enthaltenen Informationen über Personen, Gottheiten und Tempelanlagen von Assiut im Neuen Reich (ca. 1550-1070 v. Chr.) sind besonders wertvoll, da der Friedhof dieser Epoche bislang nicht entdeckt wurde. "Das sind oft wunderbare Texte. Einzigartig ist etwa ein Lied, das in mehreren Strophen und mit phantasievollen Vergleichen die Schönheit des Gesichts der lokalen Göttin Hathor beschreibt", so Verhoeven-van Elsbergen. Die Ägyptologin ist Expertin für die hieratische Kursivschrift, in der die Texte verfasst, teilweise aber kaum noch zu erkennen sind. Es erfordert Detektivarbeit und viele Vergleiche mit Paralleltexten, um die Kursivschrift zu entziffern, in Standardhieroglyphen zu übertragen, zu übersetzen und schließlich zu interpretieren. Die Texte, aber auch Bilder von Tierstudien hat das Projekt fotografisch, zeichnerisch und digital dokumentiert.
Das größte Fürstengrab seiner Zeit war 120 Meter lang, bis zu 11 Meter hoch und ging 28 Meter in die Tiefe
Ein weiterer Höhepunkt war für die Projektbeteiligten die Entdeckung bis dahin unerforschter Bestattungsschächte mit einzigartiger Architektur, darunter ein 28 Meter tiefer Schacht in Grab I, der erst nach sechs Kampagnen vollständig freigelegt war. Dieses größte Grab auf dem Gebel Assiut al-gharbi, das in diesem Jahr für Touristen freigegeben werden soll, gehörte dem Fürsten Djefai-Hapi I. (um 1900 v. Chr.). Auch von anderen Orten ist kein vergleichbar großes Grab eines hohen Beamten aus dieser Epoche bekannt: Es war in seiner ursprünglichen Form mindestens 120 Meter lang und ist heute noch auf einer Länge von 55 Metern erhalten, die Decken sind bis zu 11 Meter hoch. Im Innern ist das Felsgrab mit Malereien und in Stein gemeißelten Inschriften versehen. Viele Texte zirkulierten noch mehr als 2.000 Jahre in Ägypten – ein Beispiel für die Wertschätzung und theologische Bedeutung Assiuts sowie der sprachlichen Qualität der Inschriften.
Enge Zusammenarbeit mit ägyptischen Partnern trägt zum Erfolg des Projekts bei
Als einzigartig beschreibt Projektleiterin Verhoeven-van Elsbergen auch die Zusammenarbeit zwischen den Gruppen aus Mainz und Berlin mit den Kollegen der ägyptischen Universität Sohag, die von Anfang an aktiv eingebunden waren. Jährlich waren etwa 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Teilen der Welt und bis zu 100 lokale Grabungsarbeiter vor Ort tätig. Deren Aufgabe war es vor allem, hohe Schuttberge und Geröll von den Grabungsstätten zu entfernen.
"Durch die Forschungen am Gräberberg und unsere Dokumentation hat die Stadt ihre ursprüngliche Bedeutung zurückerhalten", so Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen. "Assiuts Rolle in der Geschichte Ägyptens konnte wiederbelebt werden." Dazu hat auch beigetragen, dass der Berg über die Jahrtausende bis heute in den Blick genommen wurde: das groß angelegte Hundegrab aus dem späten 1. Jahrtausend v.Chr., die Besiedlung durch koptische Mönche und Eremiten, der Bau von Klöstern, islamische Bestattungen – und nicht zuletzt die archäologischen Arbeiten selbst, deren Wahrnehmung im Rahmen einer ethnologischen Untersuchung unter der lokalen Bevölkerung erforscht wurde.
In der projekteigenen Publikationsreihe "The Asyut Project" sind mittlerweile 12 Bände erschienen, weitere sind in Vorbereitung. Im Rahmen der Langzeitförderung hat die DFG das Projekt bis Ende 2019 mit insgesamt 3,5 Millionen Euro unterstützt. Die Arbeiten gehen aber auch in Zukunft weiter. Unter dem Titel "Assiut – ein antikes Handelszentrum" hat Prof. Dr. Jochem Kahl in Kooperation mit der Polnischen Akademie der Wissenschaften bereits ein Nachfolgeprojekt eingeworben. Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen leitet das Langzeitvorhaben "Altägyptische Kursivschriften" der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, in dem kursive Schriftzeichen, unter anderem aus Assiut, in einer digitalen Paläographie-Datenbank verarbeitet und zugänglich gemacht werden. Das Akademie-Projekt startete 2015 und hat eine Laufzeit von 23 Jahren.