Atomkerne und Leptonen: Meilenstein in der Berechnung des Streuprozesses

Präzise theoretische Vorhersagen wichtig für künftige Neutrinoexperimente

10.08.2021

Einem Theorieteam des Exzellenzclusters PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist es gelungen zu berechnen, wie Atomkerne des Elements Calcium sich verhalten, wenn sie mit Elektronen zusammenprallen. Die Ergebnisse stimmen sehr gut mit vorhandenen experimentellen Daten überein. Erstmals ist damit eine Berechnung auf Basis grundlegender Theorien in der Lage, Experimente für solch einen schweren Kern wie Calcium korrekt zu beschreiben. Von großer Bedeutung ist die Methode vor allem, um künftige Neutrino-Experimente interpretieren zu können. Über den nun erreichten Meilenstein berichtet das renommierte Journal Physical Review Letters in seiner aktuellen Ausgabe.

Die neue Arbeit ist in der Gruppe von Prof. Dr. Sonia Bacca, Professorin für theoretische Kernphysik am Exzellenzcluster PRISMA+, in Zusammenarbeit mit dem Oak Ridge National Laboratory, entstanden: Bacca beschäftigt sich sehr erfolgreich mit der Vorhersage verschiedener Eigenschaften des Atomkerns, die sich aus den Kräften zwischen den einzelnen Kernbestandteilen – den Nukleonen – und ihren Wechselwirkungen herleiten lassen und durch die chirale effektive Feldtheorie beschrieben werden. Ihre Forschung verfolgt das Ziel, eine solide Verbindung zwischen experimentellen Beobachtungen und der zugrunde liegenden fundamentalen Theorie der Quantenchromodynamik herzustellen. In der Physik wird eine solche Vorgehensweise als ab-initio Rechnung bezeichnet, wobei ab-initio "von Anfang an" bedeutet.

Auch Atomkerne, die einem externen Feld ausgesetzt sind – zum Beispiel bestehend aus Elektronen oder anderen Teilchen – lassen sich auf dieser Basis theoretisch beschreiben. Dieser Ansatz wiederum ist der Schlüssel, um vorhandene Daten zu erklären und zukünftige Experimente zu interpretieren, etwa in der Neutrinophysik – einem wichtigen Schwerpunkt im Forschungsprogramm von PRISMA+.

Neutrinos verstehen

Neutrinos sind geisterhafte Teilchen, die unsere Erde ständig milliardenfach durchdringen und trotzdem nur sehr schwer nachzuweisen und zu verstehen sind. Mit neuen geplanten Experimenten – wie dem DUNE Experiment in den USA – wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einige fundamentale Neutrino-Eigenschaften genauer untersuchen: zum Beispiel das Phänomen, dass sich die drei Neutrino-Arten ständig ineinander umwandeln – im Fachjargon Neutrino-Oszillation. Hierfür brauchen sie wichtige Informationen aus theoretischen Berechnungen. Dabei geht es konkret um die Frage, wie Neutrinos mit den Atomkernen des Detektors wechselwirken.

Da experimentelle Daten zur Streuung von Neutrinos an Atomkernen rar sind, untersuchte das Forscherteam zunächst die Streuung eines anderen Leptons - des Elektrons -, für das bereits experimentelle Daten vorliegen.– "Calcium 40 ist sozusagen unser Testsystem", erläutert Dr. Joanna Sobczyk, Postdoc in Mainz und Erstautorin der Studie. "Mit unserer neuen ab initio Methode konnten wir sehr präzise berechnen, was bei dieser Streuung von Elektronen passiert und wie der Calcium-Atomkern sich verhält."

Das ist ein großer Erfolg: Denn bisher war es nicht möglich, solche Berechnungen für ein schweres Element wie Calcium durchzuführen, dessen Atomkern immerhin aus 40 Nukleonen besteht. "Wir freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, damit grundsätzlich zu zeigen, dass unsere Methode verlässlich funktioniert", beschreibt Sonia Bacca. "Denn nun beginnt eine Ära, wo wir ab-initio Berechnungen nutzen können, um zu beschreiben, wie Atomkerne mit Leptonen – zu denen sowohl Elektronen, als auch Neutrinos zählen – wechselwirken, sogar wenn 40 Nukleonen beteiligt sind."

"Eine der wertvollsten Eigenschaften unserer Methode ist, dass sie es uns erlaubt, die mit unserer Berechnung verbundenen Unsicherheiten zu quantifizieren. Das ist sehr zeitaufwändig, aber extrem wichtig, um Theorie und Experiment angemessen vergleichen zu können", kommentiert Dr. Bijaya Acharya, PRISMA+ Postdoc und ebenfalls Mitautor der Studie.

Nachdem sie für Calcium das Potenzial ihrer Methode zeigen konnten, will sich das Forschungsteam zukünftig das Element Argon und dessen Wechselwirkung mit Neutrinos anschauen. Argon wird als Target in dem geplanten DUNE Experiment eine bedeutende Rolle spielen – daher ist es besonders wichtig, diesen Streuprozess theoretisch beschreiben zu können.