Linguistik meldet sich in Debatte über geschlechtergerechte Sprache zu Wort

Studienbuch zur Genderlinguistik liefert Überblick über aktuelle Forschungslage / Kontrapunkt zur ideologischen Diskussion um deutsche Sprache

31.01.2019

"Der ewige Student" – könnte damit auch eine Studentin gemeint sein? Die Wogen gehen hoch, wenn das Thema auf geschlechtergerechte Sprache kommt. Bereits zaghafte Vorschläge, der Gleichstellung der Geschlechter auch in der Sprache mehr Geltung zu verschaffen, stoßen auf vehemente Kritik – nicht nur am Stammtisch, sondern ebenso in hoch angesehenen Medien. Fachwissen spielt in dieser aufgeheizten, ideologischen Debatte kaum eine Rolle. "Wir erleben zurzeit einen Kult um die deutsche Sprache, als ob sie heilig und unantastbar wäre", sagt Prof. Dr. Damaris Nübling, Sprachwissenschaftlerin vom Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Sie hält die diffusen Untergangsängste jedoch für völlig unbegründet, im Gegenteil: "Sprachwandel ist das beste Lebenszeichen einer Sprache." Um der dürftigen ideologischen Debatte etwas entgegenzusetzen, hat die Sprachwissenschaftlerin zusammen mit zwei Kolleginnen aus Freiburg, Prof. Dr. Helga Kotthoff und Dr. Claudia Schmidt, ein umfassendes Lehrbuch zur Genderlinguistik in Deutschland verfasst. Genderlinguistik – Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht gibt auf 350 Seiten einen breiten Überblick über die aktuelle Forschungslage. Dabei spannen die Autorinnen einen weiten Bogen von den theoretischen Grundlagen der Genderforschung über die Rolle der Stimme, die Grammatik und die Schreibweise bis hin zur Analyse einzelner TV-Sendungen wie "Germany's Next Topmodel" und der Kommunikation via Smartphone.

Die Genderlinguistik, eine relativ junge Disziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der Rolle des Geschlechts im Sprachsystem und Sprachgebrauch befasst, fristet in Deutschland ein Schattendasein. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass es keine Professur für Genderlinguistik gibt. Die Folge sind gravierende Wissensdefizite. "Die deutsche Sprachwissenschaft hinkt im internationalen Vergleich stark hinterher", bemerkt Damaris Nübling. "Mit unserem Buch wollen wir jetzt einen Kontrapunkt zu der vorherrschenden Laienlinguistik und ihren oberflächlichen Vermutungen setzen."

Genus im Deutschen tief in der Grammatik verankert

Es ist merkwürdig, dass gerade die Genderlinguistik in Deutschland bislang wenig wahrgenommen wird, wo doch die Sprache und besonders die Grammatik eine enge Verbindung zwischen grammatischem Genus und persönlichem Geschlecht unterhält. Während etwa die englische Sprache das grammatische Geschlecht und die Deklination der Nomen komplett abgebaut hat, wurden im Deutschen die Kategorien erhalten, teilweise sogar ausgebaut. "Geschlechtshinweise sind tief in die deutsche Grammatik eingesickert", schreiben die Sprachwissenschaftlerinnen. Es sei nicht übertrieben zu sagen, dass "das deutsche Sprachsystem eine Obsession mit Geschlecht" habe. Die sogenannte Genus-Sexus-Regel ist die sichtbarste Verschränkung von Grammatik und Zweigeschlechtlichkeit. Aber noch tiefer in der deutschen Grammatik verankert und gleichzeitig weniger offensichtlich sind die Formen der Deklination. Feminina wie "die Frau" oder "die Tante" haben im Gegensatz zu den Maskulina wie "der Mann" oder "der Kunde" keine Kasusanzeige mehr, das heißt sie bleiben in den vier Fällen Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ unverändert. Fälle drücken verschiedene Handlungsrollen aus, zum Beispiel wer handelt und wer "behandelt" wird. Das war nicht immer so, sondern die Flexion der Feminina wurde vor einigen Jahrhunderten komplett abgebaut, weil sie offensichtlich nicht für nötig gehalten wurde – eine sehr subtile Reduktion, die letztendlich auch etwas über die Handlungsoptionen von Frauen aussagt.

Generisches Maskulinum im Brennpunkt der aktuellen Kontroversen

Einer der größten Kontroversen in der öffentlichen Diskussion widmen die Autorinnen ein eigenes Kapitel, dem generischen Maskulinum. Das generische Maskulinum ist eine maskuline Personenbezeichnung, die geschlechtsübergreifend gemeint sein soll und damit Frauen und das dritte Geschlecht mit einbeziehe, wie zum Beispiel Tourist, Einwohner, Leser oder Pilot. Ob wir vor unserem inneren Auge tatsächlich auch eine Frau sehen, wenn von "Pilot" oder "Piloten" die Rede ist, wird seit drei Jahrzehnten besonders in der Psychologie und der Psycholinguistik erforscht. Mittlerweile liegen zwei Dutzend empirische Tests vor, keiner davon ergab nach Darstellung von Nübling, dass die maskuline Form tatsächlich geschlechtsübergreifend verstanden wird. Frauen werden nicht automatisch mitgedacht, wenn es "der Verkäufer" heißt.

"Völlig unterschiedliche Tests kommen zum gleichen Ergebnis, nämlich dass das sogenannte generische Maskulinum nicht funktioniert", so Nübling. Ein Beispiel für dieses Versagen zeigt eine Zeitungsanzeige, die ein Training für den akademischen Nachwuchs bewirbt: "Für immer an die Uni – wenn nicht als ewiger Student, dann wenigstens als Herr Professor!". In der Einzahl greift das generische Maskulinum noch weniger als im Plural: Bei "Studenten" werden noch eher Frauen assoziiert als bei "Student", wo der Mann deutlich im Vordergrund steht.

Sprachwandel ist das beste Zeichen für eine lebendige Sprache

Geschlechtergerechte Sprache hieße jedoch nicht nur, die sprachliche Verschleierung von Frauen abzubauen, sondern auch, eine geschlechtsneutrale Sprache in dem Sinn zu entwickeln, dass ein drittes Geschlecht ebenfalls Berücksichtigung findet. "Die deutsche Grammatik zwingt zur Zweigeschlechtlichkeit", konstatiert Damaris Nübling, sieht aber auch Spielraum für Veränderungen, vor allem bei der Namengebung. Schließlich ist es seit 2009 erlaubt, Kindern geschlechtsfreie Namen zu geben wie zum Beispiel Kim oder Kiran. In Schweden wurde vor wenigen Jahren das Pronomen "hen" neu ins Wörterbuch aufgenommen, um Menschen ohne eindeutige Geschlechtszuordnung zu bezeichnen. "Wir müssen die Angst davor verlieren, dass die Sprache untergeht, wenn wir sie an soziale Neuerungen anpassen", so Nübling.

Diese Aufforderung gilt ebenfalls für neue Schreibweisen. Doppelformen wie "Einwohner/Einwohnerinnen" sowie Binnenmajuskeln wie "EinwohnerInnen" erschweren das Textverständnis nicht und verlangsamen auch nicht den Leseprozess, sie tragen aber zur Assoziation von Frauen bei. Ob mit dem Gendersternchen, also "Einwohner*innen", oder dem Unterstrich wie bei "Einwohner_innen" auch Menschen jenseits der beiden Geschlechter assoziiert werden, ist noch nicht erforscht.

Damaris Nübling plädiert dafür, verschiedene Möglichkeiten für eine geschlechtergerechte Sprache und Kommunikation erst einmal unvoreingenommen zu beobachten und zu prüfen, anstatt sie reflexhaft abzuwehren. "Mein Anliegen ist es, die Komplexität der deutschen Sprache verständlich zu machen", so die Sprachwissenschaftlerin. Das neue Buch will hierzu und zu der öffentlichen Debatte einen Beitrag leisten.