Wissenschaftler vergleichen Entwicklung der Infektionszahlen in Tübingen mit denen ähnlicher Städte in Baden-Württemberg
22.04.2021
Durch das Modellprojekt "Öffnen mit Sicherheit" haben sich in Tübingen womöglich mehr Menschen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 angesteckt, als es ohne das Projekt der Fall gewesen wäre. Zu diesem Ergebnis sind Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), der Eberhard Karls Universität Tübingen und der University of Southern Denmark gekommen, nachdem sie die Entwicklung der Infektionszahlen in Tübingen mit der Entwicklung in ähnlichen Städten verglichen haben. Seit dem 16. März 2021 haben in Tübingen der Einzelhandel, körpernahe Dienstleistungen und Kultureinrichtungen für Besucher mit einem negativen Corona-Schnelltest geöffnet. Für die Tests wurden in der Innenstadt mehrere Stationen aufgebaut. Die Forscher gingen nun der Frage nach, ob und, wenn ja, wie sich die Infektionszahlen in Tübingen durch das Projekt verändert haben. "Denn davon ist aus zwei Gründen auszugehen: Zum einen gibt es durch die vermehrten Kontakte, etwa beim Einkaufen, Frisör- oder Theaterbesuch, mehr Infektionsmöglichkeiten und zum anderen werden durch die zusätzlichen Tests mehr Infektionen entdeckt", so Prof. Dr. Klaus Wälde, Volkswirt an der JGU und Leiter der Studie. Das zusätzliche Entdecken von infizierten Personen könne allerdings auch dazu führen, dass diese Personen sich in Quarantäne begäben und dass dadurch die Infektionszahlen anschließend sänken. "Um eine wirklich objektive Antwort auf die Frage zu erhalten, wie sich die Infektionszahlen in Tübingen ohne Modellprojekt entwickelt hätten, bräuchte man den Landkreis zweimal: einmal mit und einmal ohne Modellprojekt. Deshalb haben wir eine Kontrollgruppe, eine Art synthetisches Tübingen, geschaffen und das reale damit verglichen."
Wie die Forscher in einem aktuellen Diskussionspapier beschreiben, haben sie die in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften verbreitete Synthetic Control Method angewendet und aus anderen Landkreisen und kreisfreien Städten in Baden-Württemberg diejenigen herausgesucht, die mit Tübingen nach der Entwicklung der Corona-Fallzahlen bis Mitte März 2021 und nach bestimmten Strukturmerkmalen am stärksten übereinstimmten – etwa der Bevölkerungsdichte, dem Durchschnittsalter der Bevölkerung und dem Angebot an Ärzten und Apotheken. Die Forscher entschieden sich dabei für die Städte Heidelberg und Freiburg im Breisgau sowie die Landkreise Enzkreis und Heilbronn und berechneten dann aus deren Infektionszahlen einen Durchschnitt, der den Infektionszahlen entsprechen könnte, die Tübingen ohne das Modellprojekt ab dem 16. März gehabt hätte. "Dabei beobachten wir ab Ende März eine deutliche Zunahme der Infektionszahlen in Tübingen gegenüber denen der Kontrollgruppe", sagt Wälde. Den größten Unterschied berechneten er und seine Kollegen für Anfang April: "Dann lag die 7-Tage-Inzidenz in Tübingen bei 144, während sie für die Kontrollgruppe bei 100 lag", so Wälde. Für die folgenden Tage nimmt der berechnete Unterschied ab, bis die Infektionszahlen am 13. April 2021, dem Ende des Beobachtungszeitraums, in Tübingen nur noch knapp über denen der Kontrollgruppe liegen. "Möglicherweise ist das damit zu erklären, dass am 1. April die Außengastronomie von dem Modellprojekt ausgenommen und wieder geschlossen wurde und dass ab dann auch niemand mehr von außerhalb des Landkreises Tübingen an dem Projekt teilnehmen durfte. Möglicherweise sehen wir hier aber auch den positiven Effekt der durch die zusätzlichen Schnelltests zusätzlich identifizierten Infektionen", so Wälde.
Die Forscher berechneten auch, welchen Anteil die durch die zusätzlichen Schnelltests zusätzlich entdeckten Infektionen an den unterschiedlichen Zahlen für Tübingen und die Kontrollgruppe haben könnten. Demnach verringert sich zum Beispiel der Unterschied in der 7-Tage-Inzidenz zwischen Tübingen und der Kontrollgruppe für den 4. April von 46 auf etwa 33 Punkte, wenn die durch die zusätzlichen Tests zusätzlich entdeckten Infektionen berücksichtigt werden. "Unsere Rechnungen zeigen, dass die Zunahme bei der Inzidenz durch das vermehrte Testen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil, aber nicht vollständig erklärt werden kann", erläutert Wälde.