Open-Access-Band blickt auf den Umgang mit NS-Raubkunst und kolonialen Sammlungen sowie anderweitig sensible Objekte in Museen und universitären Sammlungen
28.11.2018
Die Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien am 3. Dezember 1998 zählt zu den zentralen kulturpolitischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts: 44 Staaten verpflichteten sich zu dem Grundsatz, während der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine "gerechte und faire Lösung" offener Fragen und Probleme im Zusammenhang mit jenen Kunstwerken zu finden. In Deutschland wurde damit der fast in Vergessenheit geratene NS-Kunst- und Kulturgutraub wieder auf die Tagesordnung gesetzt und in den Folgejahren erfolgten verschiedene Maßnahmen zur Umsetzung der Washingtoner Prinzipien. Seit Kurzem geraten auch Kulturgüter, die im Rahmen der Kolonialisierung nach Europa verbracht wurden, in den Fokus der öffentlichen Debatte – insbesondere unter dem Eindruck der kontroversen Diskussionen um das Berliner Humboldt-Forum und nach dem gerade von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy vorgelegten Bericht zur "Restitution von afrikanischem kulturellem Erbe".
An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist nun unter dem Titel "Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen" eine Publikation erschienen, die sich mit NS-Raubkunst und kolonialen Sammlungen gleichermaßen befasst und darüber hinaus deutlich macht, dass öffentliche Sammlungen viele weitere Dinge bewahren, die heute aus ethischen Gründen als sensibel eingestuft werden. Dazu zählen etwa sterbliche Überreste aus Gewaltkontexten, religiöse Artefakte, illegal gehandelte Antiken, unter den Artenschutz fallende Naturalia, rassistische Schriften und vieles andere mehr. Der Band beruht auf einer von der VolkswagenStiftung finanzierten wissenschaftlichen Tagung und wurde von der Ethnologin Dr. Anna-Maria Brandstetter, Kuratorin der Ethnografischen Studiensammlung an der JGU, und der Historikerin Dr. Vera Hierholzer, Leiterin der Sammlungskoordination der JGU, herausgegeben.
Die Herausgeberinnen haben bewusst eine dezidiert vergleichende Perspektive gewählt. Wurden sensible Dinge in Publikationen, bei Tagungen und Diskussionsveranstaltungen bisher meist nach Sammlungssparten und Disziplinen getrennt betrachtet, geht die Mainzer Publikation der Frage nach einem angemessenen Umgang mit sensiblen Objekten erstmals disziplinen- und institutionenübergreifend nach. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge vertreten die Archäologie, die Bibliothekswissenschaften, die Biologie, die Ethnologie, die Kunst- und Wissenschaftsgeschichte und viele andere Disziplinen. Am Beispiel eines Objekts oder eines Sammlungsbestands berichten sie über ihre Erfahrungen aus der Provenienzforschung und stellen die Wertekonflikte rund um die Objekte dar, die sich in der Folge vielfach ergeben. Durch den Erfahrungsaustausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Museen und Universitäten nimmt die Publikation zudem das Thema erstmals auch systematisch für universitäre Sammlungen in den Blick. Die vielfältigen Objektbestände, die an den Universitäten in Lehre, Forschung und öffentlicher Wissenschaftsvermittlung eingesetzt werden, decken aufgrund ihrer Heterogenität ein besonders breites Spektrum potenziell sensibler Objekte ab.
Welche Konsequenzen hat der Status als sensibles Objekt für seine Aufbewahrung, Dokumentation, Präsentation und Erforschung? Wie gehen wir mit Rückgabeforderungen um? Welche Formen des Umgangs jenseits einer Restitution sind denkbar? Welche Problemlagen, aber auch welche Chancen können sich ergeben? Dies sind zentrale Fragen, denen die Autorinnen und Autoren nachgehen. In der Gegenüberstellung unterschiedlicher Objektarten aus Museum und Universität werden Parallelen und Gemeinsamkeiten, aber auch notwendige Differenzierungen deutlich, die wichtige Impulse für zukünftige Auseinandersetzungen mit der Thematik geben. Die Beiträge belegen das wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftspolitische Potenzial von Sammlungen. Zudem trägt die intensive Auseinandersetzung mit Objektbiografien nicht nur dazu bei, neue Wege zu finden, wie mit sensiblen Dinge umgegangen werden kann, sondern generiert auch neue Erkenntnisse über Objekte und Sammlungen sowie das Sammeln als solches. „Die Geschichte sensibler Dinge fängt nicht damit an, dass sie sensibel wurden, und sie hört auch nicht damit auf. Sensible Dinge sind eben nicht nur Raubkunst“, so das Fazit der Herausgeberinnen in der Einleitung des Bandes.